Pandemie und Publizistik

Journalistische Nachbesinnung: Ein Debattenbeitrag zur Rolle der Medien in Zeiten von Covid-19

  • Jakob Hayner
  • Lesedauer: 7 Min.

Wir werden noch lange zu knabbern haben an der Aufarbeitung der Pandemie. Eine Nachbesinnung ist nicht nur in der Politik und der Wissenschaft, sondern unbedingt auch im Journalismus nötig.« Das sagte der Virologe Christian Drosten am vergangenen Wochenende - und es stimmt. Aber im Journalismus diskutiert man nicht gern öffentlich, was man tut. Kritische Befunde aus Kommunikations- und Medienwissenschaft finden - im Gegensatz zu Konzeptpapieren für Clickbaiting-Strategien - nur selten ihren Weg in die Redaktionen. Wo sollte man ansetzen? Am Anfang, bei den berühmten »Bildern aus Bergamo«? Eine Amateuraufnahme von Militärfahrzeugen mit hoher Suggestivkraft avancierte zum ikonischen Bild von »Killervirus« und Ausnahmezustand. Was es wirklich erzählte? Egal.

»Bei Berichten über medizinische Themen ist eine unangemessene sensationelle Darstellung zu vermeiden, die unbegründete Befürchtungen oder Hoffnungen beim Leser erwecken könnte«, heißt es im Pressekodex. Niemanden schien das im vergangenen Frühjahr noch zu interessieren. Man habe keine gesicherten Informationen gehabt, lautet der Einwand. Zwar waren der Welt weder Coronaviren noch Lungenentzündungen gänzlich fremd und überfüllte Intensivstationen bedauerlicherweise auch nicht, man kann aber zugestehen, dass einige Unklarheiten bestanden. Befreit das von der Pflicht, auf »unangemessen sensationelle Darstellung« zu verzichten, also etwa ungeprüfte Zahlen über erwartete Todesfälle in Millionenhöhe zu verbreiten und damit Panik zu schüren? Wohl kaum. Doch seitdem hat sich das in vielen Medien eingespielt: Dramatische Meldungen schaffen es auf die Titelseite, Berichte über Hintergründe und Zusammenhänge muss man suchen.

Das Muster ist bekannt: Kaum droht eine Krise, darf es keine zwei Meinungen geben, egal ob Wirtschaftskrise, außenpolitisches Säbelrasseln oder »epidemische Notlage«. »Wir müssen immer einen kritischen Geist haben, immer hinterfragen, aber in Notsituationen geht es eben erst mal darum, die Informationen zusammenzutragen, aufzubereiten und an die Öffentlichkeit auszuliefern«, sagte der Vorsitzende des Deutschen Journalisten-Verbandes im Mai vergangenen Jahres. Könnte kritischer Geist nicht gerade in Notsituationen hilfreich sein? Das Problem besteht vor allem darin, dass die »ausgelieferten Informationen« mit Blick auf eine stimmige Erzählung vorsortiert sind. Dass die Intensivbettenkapazität und die Neoliberalisierung des Gesundheitswesens unumstößliche Naturtatsachen sind, an die sich die Bevölkerung - unterstützt von harten, aber vernunftbeseelten Maßnahmen - anzupassen hat, liest und hört man seit fast zwei Jahren. Die Regierung erklärte ihr Handeln als alternativlos, die Medien haben es verbreitet.

Unter dem Titel »Einseitig, unkritisch, regierungsnah?« wurde diese Woche eine von der Rudolf-Augstein-Stiftung beauftragte empirische Untersuchung zur journalistischen Berichterstattung in der Coronazeit veröffentlicht. Als »sehr klares Ergebnis der vorliegenden Studie« bezeichnen die Autoren der Universitäten in Mainz und München, dass die Berichterstattung »zugleich regierungsnah und regierungskritisch« gewesen sei. »Sie war regierungsnah, weil die Medien, ähnlich wie die Politik, überwiegend für harte Maßnahmen plädierten. Sie war zugleich aber auch regierungskritisch, weil den Medien diese Maßnahmen oft gar nicht hart genug erschienen oder zu spät kamen.« Regierungskritisch bekommt hier eine gänzlich neue Bedeutung, das kannte man bisher nur von der offenbar »justizkritischen« Springer-Presse: Je härter, desto besser. Die Vorliebe der Medien für jemanden wie Karl Lauterbach lasse sich nur erklären durch dessen »harte Linie«, heißt es in der Studie, »allerdings eher nicht mit dessen virologischer Expertise«. Die Studie konstatiert eine weitere »bemerkenswerte Inkonsistenz« in der Berichterstattung: »Einerseits stellte sie Zukunftsprognosen, die naturgemäß mit großer Unsicherheit behaftet sind, als sicher eintretende Ereignisse dar. Andererseits konstatierte sie im Nachhinein, dass die Prognosen in der Regel nicht eintreten.«

Der hiesige Journalismus hat, der Regierung folgend oder sie übertreffen wollend, die irrige Vorstellung verbreitet, eine Viruserkrankung ließe sich letztlich am besten mit Überwachung, Ausschluss und Zwang bekämpfen. Entsprechend ist eine Verrohung der Rhetorik zu beobachten. Polemische Kampfvokabeln wie »Corona-Leugner« sind selten sachlich zutreffend und trotzdem wie die »Schwurbler« normaler Bestandteil der Berichterstattung geworden. Formulierungen wie die »Pandemie der Ungeimpften« oder gar »Tyrannei der Ungeimpften« werden unhinterfragt aufgenommen, eine linke Zeitung entblödete sich nicht, linken Maßnahmenkritikern schlimmere Seuchen als Coronaviren an den Hals zu wünschen. Je mehr sich die herrschende Klasse und ihr regierendes Personal in dem Widerspruch verstrickt, einerseits die Ökonomisierung des Gesundheitswesen voranzutreiben, andererseits die negativen Folgen dessen doch vermeiden zu wollen, desto heftiger fordert sie unbedingte Gefolgschaft ein. Weil dieser Widerspruch aber nicht zu lösen ist, müssen diese Ungereimtheiten nach außen projiziert werden, braucht es also Schuldige. Denen wird angehängt, was auf höherer Ebene unterlassen wurde. In den Medien ist die Logik des Sündenbocks übernommen worden. Neoliberalisierung des Gesundheitswesens und Pflegenotstand? Schuld sind feiernde Jugendliche, Schulkinder ohne Maske und natürlich die Ungeimpften. Die Impfstoffe wirken nicht so toll wie versprochen? Schuld sind auch die Ungeimpften. Für deren Beweggründe oder soziale Lage interessiert man sich nicht. Aber die Bratwurst, die zur Spritze locken soll, ist ein tolles Thema. Wen soll das überzeugen?

Gibt es Tote in einem Alten- oder Pflegeheim, wird die Schuld bei denen gesucht, die dort unter miesesten Bedingungen arbeiten, nicht bei denen, die diese Bedingungen geschaffen haben, den Betreibern. Angela Merkel hat in einem ihrer Abschiedsinterviews ganz nebenher gestanden, dass es ein Fehler ihrer Regierung war, die Alten nicht geschützt zu haben. Der Aufschrei in den Medien? Die waren beschäftigt: einen ungeimpften Fußballer durch die Arena jagen. Zeitungen wie der »Tagesspiegel« haben den Pranger als Genre der Reportage reaktiviert: Wer hält sich an Regeln, wer nicht? Die Grenze zur Denunziation ist durchlässig. Die viel beschworene Solidarität hat sich ins Gegenteil verkehrt. Wer sich »unsolidarisch« verhält, also nicht wie man selbst, wird ausgeschlossen. Die Rhetorik erinnert an die »Agenda 2010«: Die Solidargemeinschaft steht vor der Überlastung, sie kann nicht mehr alle tragen. Wie konnte es soweit kommen? Hier setzt der moralische Diskurs ein, der den politischen und ökonomischen verdrängt. Viele Journalisten als Teil der »neuen Mittelklasse« tragen das mit. Man hat längst verstanden, dass jeder für sich kämpft, auf die »Unverantwortlichen« blickt man gesundheitsbewusst herab.

Noch vor einem Jahr wurde die Vorstellung, es könne Immunitätsausweise geben, an denen der Zugang zu Arbeit und öffentlichem Leben hängt, in den Bereich der Dystopie verwiesen. Heute, wo das flächendeckend eingeführt wird, ist von Kritik nichts mehr zu hören. Selbst wenn man es für richtig hält, permanent zu testen, dürfte man schwer erklären können, warum ungetestete Geimpfte fürs Pandemiegeschehen unerheblich sind, nicht aber getestete Ungeimpfte. Man würde dadurch die Impfquote - zur Erinnerung: Ende September 84 Prozent der über 18-Jährigen mindestens einmal, so das Robert Koch-Institut - erhöhen. Selbst wenn das stimmen würde, und damit hätte man eine willkürliche Ungleichbehandlung eingestanden, ist es denn gerechtfertigt? Menschen haben Rechte auf soziale und kulturelle Teilhabe. Wenn man diese für nichtig erklärt, zugunsten eines höheren Zwecks, so wandelt man auf dem schmalen Grat, der keinen Unterschied zwischen Legitimität und Legalität mehr kennt. Überhaupt: Abzuwägen, das war in den Medien in den vergangenen Monaten selten zu vernehmen.

»Dies führt zur allgemeinen Frage, ob es auch in einer Pandemie wie dieser zur Vielfalt der Medienberichterstattung gehört, die negativen Nebenfolgen von aus Sicht der Pandemiebekämpfung wünschenswerten Maßnahmen zu thematisieren, auch wenn dies möglicherweise die gesellschaftliche Akzeptanz dieser Maßnahmen mindert. Oder ist die Bekämpfung der Pandemie hier so offensichtlich vorrangig, dass der Grundsatz einer vielfältigen Berichterstattung außer Kraft gesetzt werden kann oder sogar muss?«, so fragen die Autoren der erwähnten Studie. Doch Krise und Ausnahmezustand dürfen nicht als Anlass dienen, auf kritischen Journalismus zu verzichten. Denn gerade dann ist er gefordert! Er muss die politischen und sozialen Konflikte zeigen, die unterm »Vorrang der Pandemiebekämpfung« nicht verschwinden, aber drohen, in Vergessenheit zu geraten. Das Bewusstsein für Widersprüche wachzuhalten und ihnen ein Forum zu bieten, das wäre in dem ganzen Medientrubel eine aufklärerische Aufgabe. Dass das nur selten gelungen ist, macht eine Aufarbeitung wirklich unbedingt nötig.

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