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Unerträgliche Leichtigkeit
Mit Elfriede Jelineks »Die Schutzbefohlenen« erreicht die Flüchtlingskrise das Neue Theater in Halle
Aus der Dunkelheit flüstert es: »Wir leben.« Ohne die Stimmen zu erheben, wiederholen die schemenhaften Gestalten ihre Selbstbehauptung. Erst als sich der Fokus ganz auf der kaum auszumachenden Gruppe gesammelt hat, geht das Licht an. Mit Taschenlampen blenden die vier Schauspieler*innen das Publikum, bevor sie nach vorn stürmen. Das Parkett wird zur europäischen Küste. Hier schlagen die vielstimmigen Rufe zusammen.
Elfriede Jelineks Text »Die Schutzbefohlenen« legt die Flutmetapher nahe, die am Neuen Theater in Halle spielerisch ausgeweitet wird. Darin artikuliert sich die Angst vor der Auflösung, vor dem Durchdringen des festen (Volks-)Körpers durch die nicht geordnete, fließende Bewegung. Die Flüchtenden, die sich in dem vielstimmigen Stück mitteilen, sind ihrer Individualität beraubt. In den Textflächen aus Kalauern, Zitaten und Anrufungen lösen sich klare Sprecher*innenpositionen auf.
Die Bühne öffnet sich für die Schwellenwesen, die ausgeschlossenen Dritten, die im »Noch nicht« und »Nicht mehr« ruhelos verweilen. Auf dem Grat zwischen An- und Abwesenheit erscheinen die Fliehenden als Wiedergänger*innen. Als verwesender »Menschenklotz«, zu dem sie am Meeresgrund geformt wurden, suchen sie die Rechtskonservativen mit ihren Wertvorstellungen heim. Erst nachdem sie zu einem ertrunkenen Knäuel geworden sind, interessiert man sich für sie. Assoziativ verknüpft die Autorin dies mit der Forderung nach einem Existenzrecht: »Wir umarmen uns für immer. Es ist die Grundlage des Zusammenlebens, und zusammenleben, das wollen wir, egal mit wem, sogar mit Ihnen, wenn es sein muß, wenn man uns läßt.«
In »Die Schutzbefohlenen« kommt auch eine gespenstische Ebene zum Tragen: Wie Besessene sprechen die Schauspieler*innen als Untote Texte von Toten. Die Geschichte wiederholt sich immer aufs Neue. Die Marginalisierten, die in den Stimmen der Agierenden sprechen, stehen in symbolischer Verbindung zu einer Geschichte, »die nie ganz tot ist und der immer die Hand aus dem Grab wächst«. So fasste Jelinek das 1996 in einem Interview in der Zeitschrift »Theater der Zeit« zusammen.
Das in der Gegenwart und Vergangenheit Ausgeschlossene fordert sein Existenzrecht im Theater ein. Verdichteter Zynismus schlägt den Zuschauer*innen in dem 2013 erstmals veröffentlichten Text entgegen. Die Sprachfetzen erfordern es eigentlich, wie ein ekliges Ding ausgespuckt und vor die Nase der Zuschauer*innen gehalten zu werden. In der Hallenser Inszenierung von Regisseur Jakob Fedler schwanken die Darsteller*innen zwischen ironischer Distanz und hilfloser Verinnerlichung. Jana Franke versucht so die drastischen Schilderungen mit Entsetzen und Zerrüttung im Spiel zu verstärken. Aber die ausgestellte Rage verfehlt ihre Wirkung nicht nur bei den süffisanten Gegenspieler*innen auf der Bühne, sie verfehlt auch den Text. Alles bleibt merkwürdig unernst im Versuch, das Gesagte leichter zu machen.
Unentschlossen, wie mit dem Stoff umzugehen sei, zeigt sich auch die Ausstattung. Im Kinderbassin stehen die Schauspieler*innen im Anzug, darunter tragen sie bunte Trikots. Teils Wasserpistolen, teils realistisch wirkende Waffenattrappen richten sich im Lauf der Inszenierung aufs Publikum. Zwischen Pathos und Metakommentar auf gängige Leidensinszenierungen ertönt zum Ende Mozarts »Lacrimosa«. Das Requiem, düstere Flammen und der eindringliche Jelinek-Text verbinden sich zu einem wirren Abschlussbild.
Gewiss stellt diese Inszenierung, die am Freitag Premiere hatte, nicht den Höhepunkt der Intendanz Mathias Brenners dar, der diese Stelle am Neuen Theater seit 2010 besetzt. In den letzten elf Jahren bemühte sich der Leiter des Hauses um ein starkes Ensemble und intensiven Austausch mit dem Hallenser Publikum. Nun möchte er seine Position ein Jahr vor Auslaufen seines Vertrages verlassen. Bereits 2022/23 verabschiedet sich Brenner, um den Platz freizugeben und sich stärker seiner Schauspielkarriere zu widmen.
»Ich bin 64, und auch ich habe damals die 64-Jährigen angebrüllt: ›Wann sind wir denn mal dran?‹ Ich räume da lieber aus reiner Vernunft das Feld«, äußerte er sich im Gespräch mit dem MDR. Mit dem sogenannten Theaterstreit in Halle stehe seine Entscheidung nicht in Verbindung, betont Brenner. Der hatte mit der Nichtverlängerung des Vertrags von Geschäftsführer Stefan Rosinski diesen Sommer ein vorläufiges Ende gefunden. Als »spaltend, unkollegial bis destruktiv« beschrieb der scheidende Intendant gemeinsam mit dem vormaligen Leiter der Oper Halle, Florian Lutz, den Arbeitsstil Rosinskis.
Statt selbst im öffentlichen Streit abzutreten, wählt Brenner wohl den Weg der Vernunft. Auch seine Führungsweise sei konfliktbehaftet und treffe besonders bei jüngeren Schauspieler*innen auf Widerspruch. Für das Neue Theater eröffnet sich nun die Möglichkeit, Strukturen zu entstauben und neu zu sortieren. Es bleibt zu hoffen, dass der Aufsichtsrat dies als Wagnis und Chance annimmt und die Stelle nicht mit Kulturverwalter*innen, sondern mit großer künstlerischer Gestaltungslust besetzt wird.
Nächste Vorstellungen: 19.11. und 17.12.
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