Aktivisten vor Bundeskanzleramt fordern Aufnahme von Geflüchteten

Behörden gehen weiterhin von rund 4000 Schutzsuchenden in polnisch-belarussischer Grenzregion aus - Schäuble für »vorläufige Einreise«

  • Sebastian Bähr
  • Lesedauer: 4 Min.

Es sind erschreckende Bilder, die derzeit in sozialen Medien kursieren: Litauische Polizisten scheuchen mitten in der Nacht an der Landesgrenze im Wald campierende Schutzsuchende auf. Die Beamten lassen Hunde auf die aufgeschreckte Menge los, Sirenen und Scheinwerfer verursachen Unruhe. Eines der Tiere springt eine Person im Schlafsack an, es lässt erst nach einigen Sekunden von ihr ab. Schuhe und weitere Gegenstände der Geflüchteten werden von den Polizisten weggeworfen. Die Menschen schreien, sie haben sichtbar Angst.

Die Szene beschreibt nur die aktuellste Episode der menschenunwürdigen Lage, in der sich die Schutzsuchenden an der östlichen europäischen Außengrenze nun seit mehreren Wochen befinden. Dass sich die Situation in absehbarer Zeit entspannt, wird zumindest von den maßgeblichen Politikern nicht erwartet. »Wir müssen uns darauf einstellen, dass die Situation an der polnisch-belarussischen Grenze nicht schnell gelöst wird«, sagte der polnische Verteidigungsminister Mariusz Błaszczak am Mittwoch dem Radiosender Jedynka. »Wir müssen uns auf Monate einstellen. Ich hoffe, nicht auf Jahre«, sagte Błaszczak weiter.

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Die Nacht zum Mittwoch war zumindest aus Sicht der Anrainerstaaten dennoch vergleichsweise ruhig verlaufen. Laut belarussischen Angaben hatten rund Tausend Geflüchtete am Grenzübergang Kuźnica die Zeit in einem neuen Schlaflager verbracht. Am Vorabend hatte der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko angeordnet, die Lagerstätten eines Logistikunternehmens zu diesem Zweck umzufunktionieren. Ein Teil der Menschen auf der belarussischen Seite sei in das frühere Zeltlager zurückgekehrt, ein anderer Teil habe die Nacht beim belarussischen Grenzabfertigungsterminal verbracht, sagte dazu ein polnischer Polizeisprecher am Mittwoch. Nach Angaben des polnischen Grenzschutzes campieren derzeit rund 4000 Flüchtlinge bei eisigen Temperaturen auf der belarussischen Seite der Grenze.

Am Dienstag war es an dieser zu Auseinandersetzungen zwischen Polizisten und Geflüchteten gekommen. Die polnischen Sicherheitskräfte setzten nach eigenen Angaben Tränengas und Wasserwerfer gegen Flüchtende ein, aus deren Reihen seien wiederum Steine geworfen worden. Nach polnischen Behördenangaben wurden dabei neun Polizisten, ein Grenzschützer und ein Soldat verletzt. Die Angaben lassen sich nicht unabhängig überprüfen, da Polen keine Berichterstattung aus der Grenzregion zulässt und auch in Belarus die Arbeit von Journalisten stark eingeschränkt wird. »Soldaten und Polizisten versuchen weiterhin, uns Journalisten das Leben schwer zu machen«, sagte der polnische Medienschaffende Krzysztof Boczek am Mittwoch gegenüber »nd«.

Zivilgesellschaftliche Gruppen versuchen derweil auch in Deutschland, mit Protestaktionen weitere Aufmerksamkeit auf das Thema zu lenken. Mit einer Mahnwache vor dem Bundeskanzleramt hatte die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) auf die Lage der an Grenze hingewiesen. Diese Schutzsuchenden müssten umgehend von EU-Ländern aufgenommen und humanitär versorgt werden, forderte die Menschenrechtsorganisation am Mittwoch in Berlin. Viele der Geflüchteten seien Angehörige ethnischer und religiöser Minderheiten wie Kurden und Jesiden aus dem Irak und aus Syrien oder Hasara aus Afghanistan. Sie flüchteten vor Verfolgung, Krieg und Gewalt in ihren Heimatländern.

Die Geflüchteten würden benutzt, um geopolitische Interessen durchzusetzen, beklagte der Nahost-Referent der GfbV, Kamal Sido. Dass sie als Druckmittel missbraucht würden, sei nicht ihr Fehler. Lukaschenko ahme die Erpressungstaktik des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan nach. »Dieses Handeln ist verbrecherisch«, betonte der aus Syrien stammende Nahost-Experte. Die Menschen, die bei Minusgraden in den Wäldern an der Grenze ausharrten, dürften dafür nicht verantwortlich gemacht werden.

Auch die atomkritische Ärzteorganisation IPPNW rief unter Verweis auf die sich zuspitzende Lage an der Grenze und die Brutalität der Sicherheitskräfte gegenüber den Geflüchteten zu einer sofortigen Aufnahme der Menschen auf. Diesen müsse rasch umfangreiche humanitäre Hilfe geleistet werden, forderte die Organisation in Berlin. Mindestens neun Menschen seien im Grenzgebiet bereits ums Leben gekommen, darunter auch Minderjährige.

Der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) hatte sich ebenso dafür ausgesprochen, den an der polnisch-belarussischen Grenze festsitzenden Schutzsuchenden eine »vorläufige Einreise« in die EU zu ermöglichen. »Für die verzweifelten Menschen, die unter unwürdigen Bedingungen an der Grenze ausharren, brauchen wir eine schnelle, humanitäre Lösung«, sagte Schäuble dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. »Das heißt, wir müssen diesen Menschen eine vorläufige Einreise in die EU gewähren und zügig geordnete Asylverfahren durchführen.« Mit Agenturen

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