»Gedichte haben ein Unruhepotenzial«

Ist es merkwürdig, sich als Dichterin vorzustellen? Ein Gespräch mit Uljana Wolf

  • Lars Fleischmann
  • Lesedauer: 9 Min.

Denke ich an Lyrik als Gattung, dann fällt mir der Begriff »Double Bind« ein. Immer wieder gibt es widersprüchliche Aussagen bezüglich des Erfolgs und der Bedeutung der Lyrik.

Ich bin ja froh, dass Sie nicht gesagt haben: »Denk ich an Lyrik in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht.« Oder vielleicht wär das sogar toll gewesen, weil: Gedichte haben ein Unruhepotenzial, sie lassen die Sprache aus ihrer Selbst-Verständlichkeit fallen, das kann eine*n schon umtreiben. Und dieses Umtreiben wird offenbar gebraucht - es gibt ein Bedürfnis von Leser*innen und Hörer*innen nach Texten, die nicht alles zudecken, die nicht Gewissheiten verkaufen, sondern Ungewissheiten streuen und die Sinne aktivieren. »Aroused by myriad possibilities« heißt das dann zum Beispiel in dem Gedicht »Sleeping with the Dictionary« von Harryette Mullen.

Uljana Wolf
Uljana Wolf, geboren 1979 in Ost-Berlin, studierte Germanistik, Anglistik und Kulturwissenschaften in Berlin und Krakau. Sie arbeitet als Lyrikerin und Übersetzerin aus dem amerikanischen Englisch, Polnisch und Weissrussisch. Ihr Debüt "kochanie ich habe brot gekauft" wurde 2005 veröffentlicht; "Falsche Freunde", "Meine schönste Lengevitch" und weitere Bände erschienen alle beim Berliner kookbooks Verlag. Gerade ist dort ihr Essay- und Aufsatzband "Etymologischer Gossip" erschienen. 

Neben dem Bedürfnis nach Ungewissheit, muss man sich aber auch die harten Fakten anschauen: Da ist dann die Divergenz zwischen wirtschaftlichem Erfolg (die Lyrik hat gerade einmal 0,3 Prozent des Buchmarktanteils) und dem durchaus beachtlichen Erfolg bei Preisverleihungen. Können Sie sich das erklären, dass das so weit auseinanderfällt?

Am wirtschaftlichen Erfolg oder am Marktanteil lassen sich diese bereits angedeuteten Möglichkeiten nicht messen. Aber festzuhalten ist, dass sich Lyrikbände konstant in kleinen Auflagen verkaufen, dass sich immer wieder neue Lyrikverlage und neue Lyrikzeitschriften wie zuletzt »Transistor« gründen, die aufregende Gedichte, Essays, Dossiers und Übersetzungen bieten.

Das bekommt man aber nur mit, wenn man sich in aufgeklärten, interessierten Kreisen aufhält.

Nun ja, Poesie findet eigentlich im ganzen gesellschaftlichen Raum statt, nicht nur in Buch- oder Zeitschriftenform - und auch nicht immer in der klassischen Gedichtform. Der amerikanische Lyriker James Tate hat mal gesagt: »Poesie gibt es überall, man muss sie nur finden.«

Wenn man tiefer bohrt, dann fällt auf, dass es eine gesellschaftliche Bedeutung gibt, die der Lyrik immer wieder zugesprochen wird - wie sich das etwa in Schulcurricula äußert, in denen die Gedichtanalyse überproportional häufig aufkommt. Die sich aber weder in Verkaufszahlen noch anders evident darstellt, etwa durch Besuche bei Lesungen. Woher kommt Ihres Erachtens dieser Bedeutungsüberschuss, und ist er auch gerechtfertigt?

Ich denke, es stimmt nicht ganz, dass sich die gesellschaftliche Bedeutung von Lyrik im sogenannten wirklichen Leben nicht abbildet. Lesungen und Festivals haben viel Zulauf, und Wettbewerbe wie »Lyrix«, der Kinder und junge Schreibende zwischen 10 und 20 Jahren anspricht, haben eine große Resonanz, weil sich sehr viele junge Menschen als Lesende und Schreibende entdecken und regelmäßig Gedichte schicken.

Und da Sie Schule ansprechen: Ist es nicht eher so, dass in den Schulcurricula - oder sagen wir, in der Art, wie seit Jahrzehnten Lyrik in der Schule vermittelt wird - einem das gesellschaftliche Potenzial der Lyrik, nämlich anarchische Unruhe in funkigen Bildern, kritisch-reflektierendes Sprachspiel, die Neuentdeckung der Welt durch verfremdete Sprache, eher ausgetrieben wird? Sodass man dann als Erwachsener, wie Sie es ja gerade formulierten, einen irgendwie von oben vermittelten »Bedeutungsüberschuss« von Poesie konstatiert und sich fragt, ob der »gerechtfertigt« sei. Obwohl man bei Lyrik und dem, was sie kann, von einem Grundbedürfnis des Menschen reden könnte.

Also haben wir einen Zustand, wo die eine Institution, die Schule, ihrer Aufgabe nicht nachkommt, und andere zu kleinteilig und partikular sind um wirklich wahrgenommen zu werden?

Ach, die Misere, dass es in vielen Schulen am Nötigsten fehlt, um Enthusiasmus zu erzeugen, ist ja nicht auf die Poesie beschränkt. Glücklicherweise gibt es viele Initiativen, angefangen bei den Werkstätten und Formaten für poetische Bildung am Haus für Poesie in Berlin bis hin zu dem Projekt »Weltenschreiber« der Robert-Bosch-Stiftung, bei dem seit einigen Jahren in Stuttgart, Göttingen und Rostock Lehrkräfte gemeinsam mit Dichter*innen und Didaktik neue Ansätze in der Vermittlung und im Schreiben von Lyrik im Unterricht entwickeln.

Wenn man über Bedeutung redet, dann muss man natürlich auch über Vergütung reden: Von Lob allein kann man bekanntlich schlecht leben. Kann man als Lyriker*in in Deutschland gut verdienen, oder wie sieht ein typisches Finanzierungsmodell aus?

Die meisten Lyriker*innen leben nicht von ihren Büchern. Auftritte, Werkstätten oder Lehraufträge finanzieren zum Teil den Unterhalt, bei mir kommt das Übersetzen dazu. Meist ist es ein ewiges Jonglieren mit vielen verschiedenen Bällen. Im Verbrecher-Verlag ist gerade ein Buch erschienen, in dem Autor*innen über diese Gemengelage Auskunft geben: »Brotjobs und Literatur«. Ich kann es nur empfehlen.

Ann Cotten hat in der letztjährigen nd-Lyrikbeilage erzählt, dass sie, wenn sie neue Menschen kennenlernt, sich meist nicht als Lyrikerin vorstellt, sondern als Übersetzerin. Ein ähnliches Unbehagen äußert auch Ben Lerner in seinem Essay »Warum hassen wir die Lyrik?«. Woran liegt das? Kommt es zu bedeutungsschwanger daher, sich als Lyriker*in zu »outen«?

Dieses Umtänzeln der Berufsbezeichnung hat sicher viele Gründe, aber es hat wenig mit »bedeutungsschwanger« zu tun. Und so meinte es auch Ben Lerner nicht, glaube ich. Sondern man fühlt sich eher nerdig. Erstens wegen der vielen Klischees, die darüber kursieren. Und zweitens ist das Lyrikdasein zumeist nur ein Aspekt der Arbeit, die man ausübt, weil man ja gleichzeitig auch Performerin, Lehrende, Erklärende, Vermittelnde, Übersetzende oder Brotjobbende ist.

Kürzlich habe ich zum ersten Mal Gedichte für Kinder geschrieben, nämlich für die Konzert-Performance »Wortlaut« der Gruppe Loudsoft, hinter der als Mastermind die großartige in Berlin lebende Komponistin Daniella Strasfogel steckt. Nachdem meine Kinder die Gedichte für gut befunden hatten, fand ich es weniger merkwürdig, mich als Lyrikerin vorzustellen: Weil in dem Verständnis dieser Bezeichnung jetzt auch das spielerische, staunende, klingende Potenzial gedeckt war.

Darüber hinaus zeigten Sie wiederholt eine Neigung zu slawischen Sprachen, angefangen bei ihrem Debüt »kochanie ich habe brot gekauft«. Sie übersetzten Eugeniusz Tkaczyszyn-Dycki. Wie hat das begonnen?

Ich habe in der dritten Klasse angefangen, Russisch zu lernen, und die Sprache sehr geliebt. Meine Russischlehrerin brachte einmal ein riesiges pinkes, aufblasbares Telefon in die Klasse mit, mit dem wir unsere eher trockenen Dialoge simulierten. Die in den kichernd untergeklemmten Telefonhörer gesprochenen Sätze hatten auf einmal eine Weite, die sich im Inneren fortsetzte. Sätze führten ein Eigenleben, man sah sein Gegenüber durch das Plastik des Hörers verwandelt, und verwandelte sich selbst. Fremdsprechen, Sprechen entlang einer fremden Sprache, Sprechen in der eigenen Sprache, aber als Telephone Game - so wird »Stille Post« im Englischen genannt -, all das ist Lyrik für mich.

Übersetzen ist eine Art, mit der Sprache des anderen zu denken, zu sprechen, und es ist mir wichtig, nicht nur aus dem Englischen zu übersetzen, also sozusagen nach Westen, in die hegemoniale, allgegenwärtige Sprache, sondern auch meinen Sprachanfängen Rechnung tragen und den Telefonhörer nach Osten zu halten.

In ihrem Neuling »Etymologischer Gossip« firmieren Polen und Belorussland als sprachliche Sehnsuchtsorte. Wie kommt das?

Ich habe ein Semester in Krakau studiert und davor und danach ein paar Jahre Polnisch gelernt, auch diese Sprache ist mir nah. Meine Übersetzungsarbeiten sind oft gemeinschaftliche Projekte, indem ich also mit Muttersprachler*innen oder anderen Übersetzer*innen zusammenarbeite, um die jeweiligen Gedichte zu übertragen.

Eugeniusz Tkaczyszyn-Dycki habe ich mit Michael Zgodzay übersetzt und die belarussische Lyrikerin Valzhyna Mort gemeinsam mit Katharina Narbutovic. Es ist mir wichtig, das zu sagen, weil ein weiteres klebriges Vorurteil über die Lyrik das eines autarken, vor sich hin dichtenden, aus sich selbst unendlich schöpfenden Einzelmenschen ist. Lyrik ist aber nicht nur ein Prozess, sondern eben auch ein aktivierendes Feld von Beziehungen - von Leser*innen, die aktiv an der Bedeutung eines Textes mitwirken, von Übersetzer*innen, die neue Texte gemeinsam schaffen, von Wörtern, die neue Wörter hervorrufen - Lyrik ist eine Forschungsstation, da werden ständig Telefonleitungen gestöpselt und Kabel gelegt.

Sie sind die Kuratorin der nächsten Ausgabe der »Poetica - Festival für Weltliteratur« in Köln. Sicher braucht man dafür viele Telefonleitungen. Können Sie kurz etwas zu diesem Festival sagen?

Ja, das Festival findet im Januar 2022 statt und trägt den Titel »Sounding Archives - Poesie zwischen Dokument und Experiment«. Mich interessiert, wie die Lyrik auf gesellschaftliche Prozesse reagiert und speziell mit ihrem Zugriff auf dokumentarisches Material neue Zugänge zur Wirklichkeit erarbeitet.

Meine Überlegungen gingen aus von dem verstörend hybriden Gestus der Documentary Poetry, mit dem ich mich in den letzten Jahren viel beschäftigt habe: Was geschieht, wenn man Akten, Fotos, Interviews, Beweismaterial, Zeitungsartikel ins Gedicht hineinbringt, nicht nur auswertet und darüber schreibt, sondern das Material auch als Fremdkörper im Gedicht stehen und klingen lässt? Und wie spricht das Gedicht über Dinge, die nicht dokumentiert wurden, wie spricht es über das durch staatliche oder koloniale Gewalt induzierte Auslöschen von Erinnerung, welche Zeugen findet es? Mir scheint, die widerständigen Möglichkeiten der poetischen Rede haben in den letzten Jahren - und auch zuvor - interessante Formate entstehen lassen.

Das Festival scheint mir ein wenig anders zu funktionieren als andere: Sie stehen nicht bloß als Repräsentantin auf der Bühne, sondern gehen mit den Autor*innen auf Tuchfühlung. Sie haben ja auch die Auswahl der Autor*innen initiiert. Wen dürfen wir da erwarten?

Die Autor*innen, die ich eingeladen habe, bewegen sich alle in einem Feld, in dem Lyrik produktiv und schmerzhaft mit der Wirklichkeit Reibung erzeugt. Die koreanisch-amerikanische Lyrikerin und Übersetzerin Don Mee Choi beispielsweise schreibt entlang der Fotografien ihres Vaters, der Kriegsfotograf in Korea und Vietnam war. In ihrem Buch »DMZ Colony« integriert sie Interviews, die sie mit koreanischen Kriegswaisen geführt hat. Zurzeit hat sie die Picador-Gastprofessur für Literatur in Leipzig inne, und ich kann ihre Studierenden nur beneiden.

Der chilenische Lyriker Carlos Soto-Román arbeitet in der Tradition der Konkreten Poesie und Heimrad Bäcker an der Aufarbeitung der chilenischen Diktatur. Die Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch wiederum hat in ihren Werken einen dezidiert dokumentarischen Stimmenraum erschaffen, der auf die Lyrik zurückwirkt. Außerdem eingeladen sind Cecilia Vicuña, Maria Stepanova, Anja Utler, Fiston Mwanza Mujila, Yan Jun, Mihret Kebede und die Klangkünstlerin und DJane Ain Bailey.

Die Echokammern der Literatur in Bezug auf überlieferte, gelöschte, illegitim weiterklingende Archive - all das wird auf dem Festival im Gespräch eine Rolle spielen. Das Festival ist für mich sozusagen auch eine Telefonstation, ein Ort der offenen Forschung mit dem Publikum, weil alle Autor*innen eine Woche zusammen auftreten und miteinander agieren und reagieren und ich die Gespräche und Lesungen moderiere. Darauf freue ich mich sehr.

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