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Zurück in die Zukunft
Der Wissenschaftspodcast »Future Histories« geht in die zweite Runde: Im Mittelpunkt stehen politische Ökonomien jenseits des Kapitalismus
Die spannungsvolle Erwartung der nächsten Episode und das ungeduldige Fiebern auf eine neue Staffel wird in der Regel eher mit Online-Serien, nicht mit Podcasts verbunden - schon gar nicht mit Wissenschaftspodcasts. Der Theorie-Podcast »Future Histories« könnte hier eine Ausnahme bilden. Der »Podcast zur Erweiterung unserer Vorstellung von Zukunft«, wie es programmatisch im Untertitel heißt, ist in Staffeln aufgebaut, womit formal schon mal eine erste Voraussetzung für »Binge-Listening« erfüllt wäre. Seit Mai 2019, also über einen Zeitraum von mehr als zwei Jahren, ist alle zwei Wochen eine Sendung online gegangen. Die erste, 60 Folgen umspannende Staffel endete im August dieses Jahres, die zweite Staffel schloss direkt an. Alles in allem etwas zu lang für einen Serienmarathon, doch spannt »Future Histories« verschiedene Fäden über die einzelnen Episoden hinweg, die tatsächlich eine gewisse Spannung, zumindest aber anhaltende Neugierde auf das erzeugen, was hier theoretisch im Hinblick auf eine Zukunft jenseits des Kapitalismus diskutiert und entwickelt wird.
Jenseits des kapitalistischen Realismus
Eine umfangreiche Sammlung weiterer Wissenschaftspodcasts ist zusammengestellt unter: wissenschaftspodcasts.de/podcasts/future-histories
Entstanden ist der Podcast, wie in der ersten Episode nachzuhören ist, aus einer Unzufriedenheit mit der Bandbreite möglicher Zukünfte, die aktuell im öffentlichen Diskurs verhandelt werden. Die von dem marxistischen Literaturtheoretiker Frederic Jameson 2005 formulierte, vielfach zitierte Diagnose, dass es gegenwärtig leichter sei, sich das Ende der Welt als das Ende des Kapitalismus vorzustellen - vom Kulturtheoretiker Mark Fisher später kurz »kapitalistischer Realismus« genannt -, kann nach wie vor als Kern des neoliberalen Zeitgeistes gelten. Das Spektrum vorstellbarer Alternativen zum Bestehenden sei daher, so heißt es weiter im Intro des Podcast, auf dystopische Untergangserzählungen, solutionistische Imaginationen à la Elon Musk oder das reaktionäre Mantra vom »Weiter so« verengt.
Diesen Phänomenen setzt der Forscher, Filmemacher und Podcaster Jan Groos mit »Future Histories« ein Gesprächsformat entgegen, das den Raum für gemeinsames Nachdenken über mögliche Zukünfte nach dem Kapitalismus öffnet. Mit Gästen aus den Bereichen Sozialwissenschaft, Philosophie, Kulturtheorie und - seltener - Aktivismus werden im Podcast verschiedene Perspektiven und Gegenentwürfe ausgelotet. Zu den mehr als 70 bisher eingeladenen, teils internationalen Gesprächspartner*innen zählen Daniel Loick, Rouzbeh Taheri, Richard Barbrook, Joseph Vogl, Benjamin Bratton, Rahel Süß, Sabine Nuss, Timo Daum und Ines Schwerdtner.
Lose gesetzte Überthemen geben den Staffeln jeweils eine thematische Rahmung. Fokus der ersten Staffel ist zunächst der »Homo oeconomicus«, wobei es - anders als das Stichwort impliziert - weniger um subjekttheoretische Fragen als um politökonomische Ansätze und Modelle geht. Dabei stehen beispielsweise die kritische Auseinandersetzung mit bürgerlichen Eigentumsordnungen, die Renaissance der Debatte um eine sozialistische Planwirtschaft, Postwachstum und Degrowth oder Ansätze politischer Ökonomien, die Alternativen zur marktkonformen Regierungsrationalität entwerfen, auf dem Programm. Einen zweiten Schwerpunkt bildet das Thema »Herrschaft 4.0«. Hier werden sowohl Ausformungen techno-politischer Herrschaft im digitalen Kapitalismus als auch Möglichkeiten der Aneignung digitaler Technologien und Steuerungsmechanismen für eine sozialistische Produktionsweise diskutiert.
Ein dritter und am Ende eher nebensächlich behandelter Themenkomplex ist »Nach dem Menschen«. Und tatsächlich erweisen sich die Debatten um Mensch-Maschine-Hybride oder um soziale Kollektivbildungen mit Mikroben und anderen biologischen Kleinstorganismen als vergleichsweise wenig anschlussfähig für das Nachdenken über eine alternative gesellschaftliche Organisation jenseits marktförmiger Profitlogiken. Dieser Strang bleibt daher auch in der zweiten Staffel des Podcast eher randständig. Dagegen werden die ersten beiden Themenblöcke noch stärker miteinander verknüpft und mit leichter Akzentverschiebung weiterentwickelt. Die Überthemen der laufenden Staffel lauten »Das Regieren der Algorithmen« und »Alternative politische Ökonomien der Zukunft«.
Der Produzent Jan Groos versteht die Praxis des Podcastens als kollektive forschende Suchbewegung sowie als Teil der eigenen erweiterten Forschungspraxis. Die Schwerpunkte sind also nicht zufällig, schließlich promoviert er sich als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Arbeitsbereich Soziologische Theorie an der Universität Kiel zum Thema »Soziotechnische Imaginationen algorithmischer Regierungskunst«. Angeregt durch die Gespräche der ersten Podcast-Staffel ist ein Beitrag im Sammelband »Die unsichtbare Hand des Plans. Koordination und Kalkül im digitalen Kapitalismus« entstanden, erschienen 2021 im Karl Dietz Verlag. Anschließend an das Modell einer sozialistischen Planwirtschaft, das der US-amerikanischen Ökonom Daniel E. Saros entwickelte, lotet Groos hier mögliche Antworten auf die Frage aus, wie Wirtschaften unter Nutzung digitaler Informations- und Kommunikationstechnologien so organisiert sein können, dass die Bedürfnisse aller berücksichtigt werden. Was der Internetkonzern Amazon an Plattform- und Feedback-Technologien zur Überwachung und Verhaltenssteuerung seiner User nutzt, müsste natürlich durch kollektive demokratische Entscheidungsstrukturen ergänzt werden. Daher bringt Groos hier das »spielerisch-provokante« Begriffspaar »freie Planwirtschaft« ins Spiel. Abgesehen davon ist die Frage nach der Steuerung von Produktion und Güterverteilung allerdings nur eine von vielen Fragen, die im Hinblick auf eine bedürfnisorientierte, nicht der Profitmaximierung dienenden Produktionsweise beantwortet werden müsste: Stichworte wären hier etwa Arbeit und Nicht-Arbeit oder Care- und Reproduktionsarbeit.
Sprengung der Fachgrenzen?
Über das Genannte hinaus ist »Future Histories« auch eine Quelle und Inspiration für andere Forschungsarbeiten, wie etwa die Rezeption der Episode mit Daniel E. Saros zeigt. Die sogenannten Shownotes - gewissermaßen die Fußnoten der Form Podcast - bieten einen reichhaltigen Fundus an Literaturhinweisen und Verlinkungen. Über die verschiedenen Gespräche hinweg werden thematische Fäden gesponnen, so dass Dialoge unter den Gästen entstehen. Zuhörende können sich zudem durch Vorschläge und Hinweise einbringen. In den Reflexionen, die Jan Groos im Podcast ausführt, spricht dieser daher von einer Bildung »epistemischer Gemeinschaften« über Fachgrenzen hinaus, die das Gesprächsformat ermögliche.
Eine offene Frage bleibt, ob es auch gelingt, die Grenzen des wissenschaftlichen Diskurses zu überschreiten und mit der Debatte in gesellschaftliche Konfliktfelder und soziale Bewegungen hineinzuwirken. Tatsächlich ist die keinesfalls triviale Frage, wie die Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise eigentlich zu erreichen wäre, in »Future Histories« bisher eher rudimentär verhandelt worden. Da helfen auch Theorien einer Vorwegnahme postrevolutionärer Verhältnisse durch gegenwärtig gelebte Praktiken in gesellschaftlichen Nischen und Zwischenräumen, wie sie etwa Bini Adamczak und Eva von Redecker formulieren, nur begrenzt weiter.
Einstiegshilfe in die Theorie
Einen Versuch, eine breitere Öffentlichkeit jenseits der wissenschaftlichen Community zu erreichen, stellt das Podcast-Nebenprojekt »Metalepsis« dar. Unter dem Stichwort »Wissen in Bewegung« entstehen hier unter anderem kurze Videos, in denen Kernbegriffe kompakt und leicht verständlich erklärt werden. Erklärvideos zu Themen wie »Was ist Anarchismus?«, »Was ist Kybernetik (in 90 Sekunden)« oder »Was sind proprietäre Märkte (in 100 Sekunden)« bieten Interessierten Einstiegshilfen in theoretische Debatten und tragen somit ein Stück weit zu ihrer Demokratisierung bei. Am Ende jeder Episode des Podcast stellt Jan Groos seinen Gästen die Frage, was sie in Bezug auf eine vorgestellte Zukunft freudig stimme. An ihn selbst zurückgespielt, antwortet er gegenüber »nd« darauf schlicht: »Offenheit!«
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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