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Chinas Labor im Weltall
Mit der »Tiangong«-Raumstation rüstet sich das Reich der Mitte für die Zeit nach der ISS
Es läuft gut in der chinesischen Raumfahrt: Marsmission, Mondproben, Navigationssystem und fast schon nebenbei hat mit dem Aufbau der Raumstation das Kernprojekt der bemannten chinesischen Raumfahrt begonnen. In der Nacht vom 7. zum 8. November 2021 glückte eine weitere, lang erwartete Erstleistung: Die erste Chinesin stieg in den freien kosmischen Raum aus.
EVA ist bisher meist männlich
Die 41-jährige Wang Yaping, Oberst und frühere Militärfliegerin der Chinesischen Volksbefreiungsarmee, absolvierte gemeinsam mit ihrem 55-jährigen Kollegen Generalmajor Zhai Zhigang den ersten »Weltraumspaziergang« der Mission »Shenzhou 13«. Dieser Außenbordaufenthalt - im Fachjargon »EVA« (Extravehicular Activity) genannt - war erst der vierte chinesische überhaupt. Zwei wurden im Juli und August von den Kollegen des Vorgängerfluges mit »Shenzhou 12« durchgeführt. Die erste EVA Chinas kam auch schon auf das Konto von Zhai Zhigang. Das war vor 13 Jahren, beim Flug mit »Shenzhou 7«. Während Zhai damals knapp 15 Minuten lang frei schwebte, schaute Crewmitglied Liu Boming nur mit dem Oberkörper aus der Luke. Diese Kurzzeiterfahrung vom September 2008 erachteten die chinesischen Raumfahrtplaner als ausreichend, um den Aufbau der nationalen »Tiangong«-Raumstation in Angriff zu nehmen. Auch wenn Vergleiche immer etwas hinken, das wäre so, als wenn die Sowjetunion nach dem ersten bemannten Wostok-Woschod-Programm mit der »Salut«-Station begonnen oder die Nasa schon nach den »Mercury«-Flügen »Skylab« gestartet hätte.
Noch ein Vergleich: Die erste und einzige EVA einer sowjetischen Frau wurde im Juli 1984 von Swetlana Sawizkaja während der 53. bemannten Mission ausgeführt. Im Herbst des gleichen Jahres arbeitete Kathryn Sullivan während des 44. bemannten Fluges der Nasa als erste US-Amerikanerin im freien Kosmos. China lässt nun Wang Yaping auf dem 9. bemannten Flug Raumfahrtgeschichte schreiben. Bis heute haben 236 Raumfahrer eine EVA absolviert, 16 davon sind Frauen: eine sowjetische Kosmonautin, eine chinesische Taikonautin, der Rest waren US-Astronautinnen.
Die Raumfahrt und ganz besonders Außenbordarbeiten sind noch immer eine männliche Domäne. Nur die Nasa hatte im Oktober 2019 einmalig eine EVA mit zwei Astronautinnen umgesetzt. Noch gab es keine komplett weibliche Weltraumcrew. Dabei halten Frauen den halben Himmel hoch, pflegte der Große Vorsitzende Mao Zedong zu sagen. Mit zehn Prozent Frauenanteil im chinesischen Taikonautenkorps ist das Reich der Mitte weit davon entfernt. Doch Yang Liwei, Chinas erster Taikonaut und jetziger Direktor für bemannte Raumfahrt, erklärte vergangenen Monat gegenüber der Presse: »Bei jedem zukünftigen Raumflug wird es einen weiblichen Taikonauten geben. Selbst Liu Yang ist im Training.« Liu Yang ist Chinas erste Taikonautin.
Sonntagsarbeit mit Nachtschicht
Zhai und Wang begannen am 7. November, einem Sonntagnachmittag, um 16.30 Uhr Pekinger Zeit (PKZ), ihre »Feitian«-Raumanzüge anzulegen. Ein Teil ihrer Aufgabe war es, die neuen, verbesserten Anzüge im praktischen Einsatz zu testen, der andere waren Montagearbeiten am robotischen Arm der Station. Um 18.51 Uhr PKZ öffnete Zhai die Ausstiegsluke des »Tianhe«-Hauptmoduls. Etwas später meldete er sich im Kontrollzentrum am Pekinger Astronautenzentrum mit den gleichen Worten wie bei seinem historischen Ausstieg im Jahr 2008: »Hier ist 01, ich habe die Station verlassen, alles in Ordnung.« Wang Yaping begriff die Symbolik und schob hinterher: »Hier ist 02, ich werde die Station gleich verlassen, alles in Ordnung.« Sich der guten Stimmung anschließend fügte Ye Guangfu, das dritte Besatzungsmitglied, aus dem Inneren der Station hinzu: »Hier ist 03, ich werde die Station beim nächsten Mal verlassen, alles in Ordnung.« Das veranlasste einen chinesischen Raumfahrtenthusiasten, der die EVA live im Internet verfolgte, spontan in die Kommentarspalte zu schreiben: »Und ich beobachte Euch beim Verlassen der Station, alles in Ordnung!«
Um 20.28 Uhr PKZ war auch Wang draußen und es begann die bis in die frühen Morgenstunden dauernde Nachtschicht. Wang und Zhai installierten Fußhalterungen und eine Arbeitsplatte für den Robotarm. Gemeinsam montierten sie eine Aufhängevorrichtung und ein Verbindungsstück für den zweiten Teil des Robotarms, der im nächsten Jahr hinzugefügt werden wird. Der komplette Roboterkran wird dann aus dem bereits installierten zehn Meter langen Ausleger und dem neuen fünf Meter langen Arm bestehen. Er kann einen Abstand von 14,5 Metern überspannen, Lasten bugsieren und die Außenwände der Module inspizieren. Wang nahm alle Arbeiten mit ihrer Helmkamera auf. Nach sechseinhalb Stunden kehrten beiden um 01.16 Uhr PKZ zur Luke zurück. Kollege Ye Guangfu öffnete um 02.20 Uhr PKZ die Verbindung zum »Tianhe«-Modul und begrüßte das erfolgreiche Duo zurück an Bord.
Frau an Bord
Dass Wang für eine EVA vorgesehen ist und zur »Shenzhou-13«-Mannschaft gehören würde, war intern schon 2019 festgelegt worden. Die Öffentlichkeit erfuhr davon auf der Pressekonferenz am 14. Oktober 2021 - zwei Tage vor dem Start. Kommandant Zhai Zhigang sowie die Missionsspezialisten Wang Yaping und Raumfahrtneuling Ye Guangfu stellten sich den Fragen der Medien. Es wurde auch der Starttermin vom Kosmodrom Jiuquan mit der Rakete »Langer Marsch 2F« für den 16. Oktober um 00.23 Uhr PKZ bekannt gegeben. Danach entbrannte in den chinesischen sozialen und staatlichen Medien ein Hype über Wangs Rolle und Wohlbefinden während des sechsmonatigen Aufenthalts im All. In einer für China ungewöhnlich offenen Form wurden selbst Make-up und Menstruation diskutiert. Wir wissen demzufolge, dass für Wang Kosmetika der Marke Maysu und persönliche Hygieneartikel mit dem im September gestarteten Transportraumschiff »Tianzhou 3« zur Raumstation geliefert wurden. Prompt schossen die Verkaufszahlen für die Maysu-Produkte in die Höhe. Die Firma arbeitet seit sieben Jahren mit dem staatlichen Raumfahrtprogramm zusammen und versorgte bereits drei Taikonauten mit Hautpflegeprodukten für Männer im All.
Ohne Details zu nennen, wurde bekannt, dass es für Wang Anpassungen an der Weltraumtoilette in der »Tiangong«-Station gegeben hat. Gewöhnlich wird aus dem Urin der Raumfahrer und Raumfahrerinnen das Wasser zurückgewonnen. Das System auf der Internationalen Raumstation ISS ist aber nicht für die Abtrennung von Menstruationsblut ausgelegt. Ob das chinesische Wasserrückgewinnungssystem das kann, ist nicht klar; auch nicht, ob die Anpassung diesen Zweck verfolgte. Von den meisten Nasa-Astronautinnen ist bekannt, dass sie bei Langzeitmissionen die Pille durchgängig nehmen, um die Periode komplett zu unterdrücken. Es ist ihnen aber freigestellt, wie sie damit umgehen möchten. So wohl auch in China. Wang folgt dem natürlichen Rhythmus.
Ebenfalls wurde in den Staatsmedien ausführlich die besondere Eignung von Frauen für Langzeitflüge diskutiert. Huang Weifen, Chefin für das Training am Taikonautenzentrum in Peking, verwies auf die sozialen Kompetenzen von Frauen, die für die Teambildung unablässig sind.
Pang Zhihao, ehemaliger Angestellter der China Academy of Space Technology konkretisierte das: »Weibliche Taikonauten haben viele Vorzüge gegenüber Männern. Sie haben bewiesen, dass sie während Langzeitaufenthalten im All mental stabiler sind. Sie sind sensibler und rücksichtsvoller gegenüber ihrer Umgebung.«
Liu Yang, Chinas erste Taikonautin, hingegen sprach aus eigener Erfahrung, als sie anmerkte: »Der Weltraum wird dir nicht freundlicher geneigt sein, weil du eine Frau bist. Darum gibt es im Training keine Unterschiede zwischen Mann und Frau.« Eine Aussage, die Wang Yaping auf der Pressekonferenz vor dem Start bestätigte. Sie erklärte außerdem, dass sie wieder als »Lehrerin aus dem All« fungieren wird. Im Juni 2013 gab sie von Bord des Raumlabors »Tiangong 1« eine Unterrichtsstunde für 60 Millionen Schüler in China. Sie setzte damit eine Vision von Deng Xiaoping aus dem Jahr 1978 um. Er überzeugte damals seine Genossen von dem Nutzen der Raumfahrt mit den Worten: »Wenn wir einen guten Lehrer einladen, um eine Unterrichtsstunde in der «Großen Halle des Volkes» zu geben, dann können das nur 10 000 Menschen hören, aber wenn derselbe Lehrer eine Unterrichtsstunde über das Fernsehen gibt und jeder hat die technische Ausrüstung, um zu folgen, dann haben wir einen Klassenraum von unbegrenzter Größe.« Für den jetzigen Flug hat Wang Yaping eine zweite Lektion parat und übers Internet kann es ein Klassenzimmer von globaler Größe werden.
Wang hat für ihren Flug auch ein Musikinstrument eingepackt und Geschenke für das chinesische Neujahrsfest am 1. Februar 2022 vorbereitet, das zum ersten Mal auch in der Umlaufbahn gefeiert wird: »Ich freue mich schon darauf, diesen besonderen Festtag zu feiern und ich bin sicher, dass die Geschenke eine große Überraschung sein werden.« Kommandant Zhai hingegen erzählte vor dem Start, dass er als Kalligrafie-Liebhaber Papier, Tinte und Pinsel im Gepäck hat.
Ausgewogenes Preis-Leistungs-Verhältnis
Doch bis dahin gibt es noch viel Arbeit für das »Shenzhou-13«-Trio. Da es die erste Halbjahresmission Chinas ist, sollen die Arbeits- und Lebensbedingungen an Bord optimiert werden. Das »Tianhe«-Modul und dessen technische Systeme durchlaufen bis April eine grundlegende Prüfung. Sollten irgendwelche Parameter nicht zufriedenstellen, dann hat China ein Ersatzmodul parat, das kurzfristig gestartet werden könnte. Natürlich stehen auch wissenschaftliche Experimente auf dem Plan, genauso wie zwei weitere EVAs. Der Robotarm wird eines der beiden in Richtung der Längsachse angekoppelten Transportraumschiffe von einem Kopplungsstutzen zum anderen umsetzen. Das ist eine wichtige Generalprobe für die im nächsten Jahr zu startenden Wissenschaftsmodule »Wentian« und »Mengtian«. Diese fliegen »Tianhes« hinteres Kopplungssegment an, müssen danach aber per Robotarm an den um 90 Grad versetzen Nachbarstutzen umgekoppelt werden.
Hao Chun, Chef des Direktorats für bemannte Raumfahrt gab einen Ausblick auf die nächsten zwei Jahre: »Eine erfolgreiche ›Shenzhou-13‹-Mission wäre der Abschluss der ersten Phase des Raumstationsprojektes, die mit dem Start des ›Tianhe‹-Moduls begann und die Verifizierung kritischer Technologien umfasst. Danach beginnt bis Ende 2022 die Aufbauphase der Station mit der Montage von ›Wentian‹ und ›Mengtian‹. Geht alles glatt, würde ab 2023 Phase drei beginnen, der Routinebetrieb auf einer ständig bemannten chinesischen Raumstation.« Und da gibt es gut zu tun: »China hat bereits 100 wissenschaftliche Experimente auf der Warteliste«, berichtete Gu Yidong, Chefwissenschaftler des bemannten Raumfahrtprogramms. »Wir haben diese aus 800 nationalen Bewerbungen ausgewählt. Einige davon werden nächstes Jahr starten.«Gu gab auch kund, dass es bald eine weitere Ausschreibung für internationale Experimente über das Büro für Weltraumangelegenheiten der Vereinten Nationen geben wird. Und er betonte: »Es war nie unsere Absicht, hinsichtlich Größe mit der Internationalen Raumstation zu konkurrieren. Im Gegenteil, die Drei-Modul-Konfiguration basiert auf den wissenschaftlichen Bedürfnissen Chinas und auf unseren Ansichten von einem vernünftigen Kosten-Nutzen-Verhältnis.« Trotzdem wünscht sich China internationale Gäste an Bord. Ein pakistanischer Astronaut könnte 2023 zum ersten internationalen Besatzungsmitglied werden.
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