• Kultur
  • Opioidkrise in den USA

Unterwegs in den Alltag

In den USA bricht die Droge Fentanyl alle traurigen Rekorde. Prince und Tom Petty waren die Vorboten dieser Krise

  • Anjana Shrivastava
  • Lesedauer: 7 Min.

Es war auf den ersten Blick ungewöhnlich, den Rockstar Tom Petty neben Prince, dem Virtuosen der Funkmusik, 2004 zusammen auf einer Bühne zu sehen. Sie spielten zur Erinnerung an den verstorbenen George Harrison in der »Rock’ n’ Roll Hall of Fame« in Cleveland, Ohio. Der 54-jährige Tom Petty wirkte mit seiner akustischen Gitarre etwas steif; Prince, fast zehn Jahre jünger, mit seiner E-Gitarre eher wie ein Zauberer. Niemand im Publikum hätte sich vorstellen können, dass beide Musiker einmal an derselben Droge sterben würden: Prince starb im Jahr 2016 an einer Überdosis des Schmerzmittels Fentanyl, ebenso Petty zwei Jahre später.

Vergangenen Donnerstag gab das Center for Disease Control and Prevention bekannt, dass die Zahl der Drogentoten in den USA einen neuen Rekord erzielt hat: Von Mai 2020 bis April 2021 starben 100 300 US-Amerikaner an einer Überdosis. Eine Steigerung von 30 Prozent gegenüber 2019. 64 000 Menschen starben nach dem Konsum von Fentanyl, das in den letzten fünf Jahren Heroin als stärkste Droge verdrängt hat. Verkündet wurden diese Zahlen in Minneapolis - der Heimatstadt von Prince.

Verglichen mit dem ewig kreativ-nervösen Prince galt Tom Petty als geradezu bodenständig. Er blieb seinem Musikstil treu, produzierte mit einer fast unheimlichen Stetigkeit Hits wie »American Girl«, »Refugee« oder »Free Fallin«. Er arbeitete, erst im heimatlichen Florida und danach in Los Angeles, immer auf der Sonnenseite, aber in seinen Texten durchaus kritisch und engagiert. Ursprünglich für seine Höflichkeit bekannt, wirkte er aber nach Jahren des Drogenkonsums irgendwann enerviert. Der Produzent Rick Rubin bedauerte Ende der Neunziger, dass Petty nur noch mit dunkler Brille zu Aufnahmen erschien. Manchen Beobachtern schien der Sänger damals fast schon schizoid.

Ganz anders der expressive Prince, der neben Michael Jackson vielleicht der letzte Superstar war. Prince kontrollierte sein Image akribisch. Er lehnte Alkohol und Drogen ab und war Vegetarier. Auch für seine privaten Partys hatte er ein Alkoholverbot verhängt. Dennoch wurden beide Männer auf ihren großen Anwesen tot aufgefunden, Prince nahe Minnesota und Petty in Malibu, getötet von einer wohl unfreiwilligen Überdosis Fentanyl, das sie als Medikament wegen ihrer Hüftverletzungen nahmen. Diese Schockmeldungen wirkten wie Demaskierungen. Prince und Petty gaben posthum dem synthetischen Opioid Fentanyl zum ersten Mal so etwas wie ein Gesicht.

Fentanyl wirkt rund einhundert Mal stärker als Morphium. Schon zwei Milligramm können tödlich wirken. Seit 2015 sinkt in den USA die durchschnittliche Lebenserwartung. Als Folge der Opioidkrise, die genau genommen schon Mitte der 90er Jahre begann, als Pharmakonzerne erstmals unter Ärzten die Verschreibung opioidhaltiger Schmerzmittel propagierten, die angeblich nicht abhängig machten. Fentanyl ist ein solches Opioid. Es tötet Tellerwäscher wie Millionäre, die Stars wie ihre Fans.

Beim Astroworld-Konzert von Rapper Travis Scott Anfang des Monats in Houston, das wegen einer Massenpanik abgebrochen werden musste, hatten die Notfallmediziner alle Vorräte an Naloxon, das Gegenmittel bei einer Opioidüberdosis, verbraucht, bevor der Abend vorzeitig zu Ende ging. Unter den 50 000 Besuchern mussten viele Bewusstlose versorgt werden. Der Polizeichef von Houston bestätigte Gerüchte, dass ein Sicherheitsbeamter auch mit Naloxon behandelt werden musste, weil ihn jemand Fentanyl mit einer Nadel injiziert hatte.

In den USA ist Fentanyl auf dem Weg zur Alltagsdroge. Bereits 2018 wurde in einer Studie festgestellt, dass Arbeiter, die auf dem Bau, im Wald oder unter Tage arbeiten, ein hohes Risiko tragen, an einer Fentanylüberdosis zu sterben, denn sie ziehen sich bei ihrer Arbeit besonders oft Verletzungen zu, die dann mit starken Schmerzmitteln behandelt werden. Sie nehmen diese Mittel, um arbeiten zu können, wenn sie schlecht versichert sind oder nur als Saisonarbeiter beschäftigt werden. Aus diesem Grund sind ländliche Bundesstaaten wie West Virginia oder New Hampshire so stark von der Fentanylkrise betroffen. Schon 2015 gab es in West Virginia eine Inzidenz von 42 Überdosis-Todesfällen pro 100 000 Einwohnern, das ist doppelt so hoch wie die Inzidenz bei Autounfällen.

Petty und Prince mögen vermögend gewesen sein, doch sie verletzten sich bei der Arbeit und starben beide nach Tourneen, weil auch sie Saisonarbeiter waren, wenn auch auf höchstem Niveau. Doch keine Frage, sie mussten auftreten.

Die ersten Schmerzerlebnisse Pettys waren die Schläge seines Vaters. Sein Großvater wurde »Pulpwood Petty« genannt: Er hatte in den Wäldern Georgias gearbeitet, in den Lagern der Holzfäller. Später lebte er als Pachtbauer im Sumpfland Floridas, wo er mit seiner Ehefrau Mais und Bohnen anbaute. Tom Petty ging mit seinem Vater fischen. Der wirkte auf den sensiblen Sohn wie ein wilder Mann. Er hantierte wild mit Klapperschlangen, schleuderte sie in Kreisbewegungen über seinen Kopf. Mit seinen bloßen Fingern stach er die Augen von Krokodilen aus.

Als Tom Petty Rockstar wurde, baute er sein Haus in Encino als Produktionsort aus. Eines Abends im Jahr 1984 ließ er seine Bandmitglieder frustriert im Studio zurück. Alle, einschließlich Petty, waren für ihre zähe Arbeit bekannt, aber auch für ihren Drogenkonsum. Sie produzierten eine Platte, gingen auf Tour, Jahr für Jahr. So war der Rhythmus. Doch die Produktion für das Album »Southern Accents« verlief besonders schleppend. Petty ging aus dem Studio die Treppe zur Wohnung hoch und rammte seine Faust mit voller Wucht in die Wand. Nicht die Wand gab nach, sondern seine Hand. Die Knochen zerbröselten wie schlechter Gips. Die Ärzte hielten es für ein Wunder, dass er nach allen Operationen wieder Gitarre spielen konnte. Aber in dieser Zeit im Krankenhaus kamen zum Kokain starke Schmerzmittel hinzu.

Prince dagegen erlitt seine Verletzungen direkt auf der Bühne. Mit Vorliebe sprang er katzenhaft von Podesten herunter - in den hohen Plateauschuhen, die er gerne trug. Über die Jahrzehnte trug er immer wieder einen Spazierstock, scheinbar ein Teil seiner Exzentrik, wie auch seine Tangas, Trenchcoats und Kniestrümpfe, doch mit Stock konnte er besser laufen. Mit diesem Look war Prince der androgyne Star des verdämmernden Jahrhunderts. Seine Musik hatte eine basale Verbindung zum Funk, speziell zu dem von James Brown, dem ersten schwarzen Superstar. Funk, betonte Prince, habe nichts mit der »Zauberei« von Michael Jackson zu tun: »Funk besteht aus nichts als festen Regeln.« Seine Eltern, beide Jazzmusiker, hatten ihn als Zehnjährigen zu einem Konzert von James Brown mitgenommen und ihn dort auf die Bühne gehoben, wo er zehn Minuten blieb. Es war sein Urerlebnis.

Auch James Browns Musik kam aus den Wäldern, ebenfalls aus denen von Georgia. Für ihn war Funk etwas, das »in der Erde entstanden ist, unter den Kieferbäumen meiner Jugend«. Die ersten neun Jahre lebte er in bitterer Armut, durch den Wald streifend. Sein Vater arbeitete in den Terpentin-Wäldern, wo das Harz der Kiefern geerntet wurde. Es waren fast nur schwarze Männer. Ihre Körper wurden durch die Arbeit verschlissen, sogar ihre Fingerkuppen kamen ihnen durch die ätzenden Säuren abhanden. Aber am Sonnabend feierten sie in den »Jukes«, mit Gitarren, Klavier und wandernden Bluesmusikern. Ihre Droge war der Schnaps »Applejack Moonshine«. Sie besaßen eine ungeheure Energie, eine Lebensenergie, die auch Prince in Songs wie »1999« besang. Im Funk war die Wucht des 19. Jahrhunderts, die Eroberung der Natur selbst.

James Brown starb 2006. Prince war auf seiner Beerdigung. Zehn Jahre später, am 15. April 2016, war er in seinem Privatflugzeug auf dem Weg zurück von Atlanta, wo er an einem Tag zwei Tage Konzerte gegeben hatte, als er in der Luft das Bewusstsein verlor. Nach einer Notlandung wurde er im Krankenhaus mit Naloxon behandelt, damit er wieder atmen konnte. Am nächsten Vormittag machte er sich auf zu seinem Anwesen Paisley Park in Chanhassen, einem Vorort von Minneapolis, wo im Foyer in einem Käfig weiße Tauben flogen. Es sollte ein Fest geben, um der Welt zu zeigen, dass wieder alles in Ordnung war. Am Tag danach, am Morgen des 21. April, fand man ihn leblos im Fahrstuhl. Versuche, ihn wiederzubeleben, scheiterten.

In San Francisco starben 2020 mehr Menschen an einer Überdosis Fentanyl als an Covid-19. Fentanyl wird immer mehr zur Straßendroge, so billig, dass es geraucht wird. Manchmal sind es auch nur Ersatzschmerztabletten, die in Mexiko aus chinesischen Chemikalien hergestellt werden - denn das ist noch weitaus billiger als Opioide auf Mohnbasis. Prince und Tom Petty wirken wie die Vorfahren der Krise, sie starben noch einen bürgerlichen Tod, zu Hause. Die Drogen werden stärker, die Menschen schwächer. Das Zeitalter von Fentanyl scheint erst anzubrechen.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.