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»Das Leitmotiv der Moderne ist Revolution«

Die Soziologen Andreas Reckwitz und Hartmut Rosa diskutieren in ihrem neuen Buch über die Krisen der Spätmoderne und die Aufgaben einer kritischen Gesellschaftstheorie - doch bei aller Nähe sind ihre Schlussfolgerungen höchst unterschiedlich

  • Tom Wohlfarth
  • Lesedauer: 7 Min.

Wenn es stimmt, dass das Zeitalter der Moderne insgesamt eines der Krise ist, dann wird uns dieser Umstand im vergangenen Jahrzehnt der Spätmoderne besonders bewusst. So haben die nicht enden wollenden und einander befeuernden Krisenmomente der letzten Jahre - von der Finanz- und Eurokrise über den Aufstieg des Rechtsautoritarismus bis hin zur Einsicht in die Folgen des Klimawandels, inklusive tödlicher Viruspandemien - das Bedürfnis der Öffentlichkeit nach umfassenden Deutungsversuchen der Gesellschaftstheorie enorm erhöht. Das behaupten zumindest die Gesellschaftstheoretiker und Soziologen Andreas Reckwitz und Hartmut Rosa, deren eigene groß angelegte Theorien aus jüngster Zeit - etwa Rosas »Beschleunigung« (2005) und »Resonanz« (2016) oder Reckwitz’ »Die Gesellschaft der Singularitäten« (2017) und »Das Ende der Illusionen« (2019) - in der Tat auf bemerkenswertes Interesse gestoßen sind.

Zugleich jedoch konstatieren Reckwitz und Rosa, dass ihr Fach - die akademische Soziologie - im Ganzen diesem Bedürfnis paradoxerweise immer weniger nachkomme und sich stattdessen in einer »immer weiter reichenden empirischen Spezialisierung« und »Bindestrichsoziologien« zerfranse. Dabei sei gerade die Soziologie seit ihren Anfängen bei Max Weber und Georg Simmel - oder gar Karl Marx! - »dazu prädestiniert, am ›großen Bild‹ der Gesellschaftstheorie und an einer umfassenden Theorie der Moderne zu arbeiten«. Um diesem geteilten Anspruch Ausdruck zu verleihen, haben Reckwitz und Rosa nun gemeinsam das Buch »Spätmoderne in der Krise« veröffentlicht, in dem sie beide jeweils in einem längeren Kapitel ihre theoretischen Positionen präsentieren, um anschließend in ein ausführliches Gespräch zu treten.

Dialektik der Moderne

Zunächst kommt es Reckwitz hier zu, etwas grundlegender in die Unterscheidung von eher analytischer Sozialtheorie und kritischer Gesellschaftstheorie einzuführen, die sich letztlich beide ergänzen sollen. Für seine »kritische Analytik« bedient er sich einer sozialtheoretischen Praxistheorie, um dann mit ihrer Hilfe eine allgemeine Theorie der Moderne zu entwickeln. Die Praxistheorie soll nach Reckwitz einen Mittelweg zwischen gängigen soziologischen Dualismen - etwa Materialismus und Kulturalismus - gewährleisten. Sie begreift das Soziale weder allein vom individuellen Subjekt noch vom kollektiven Ganzen her, sondern stets als einen größeren Zusammenhang konkreter Praktiken, einem »Nexus von doings«.

So deutet Reckwitz die »Praxis der Moderne« aus dem Zusammenwirken dreier »Spannungsfelder«: zwischen Öffnung und Schließung von Kontingenz, zwischen Allgemeinem und Besonderem oder Rationalisierung und Kulturalisierung sowie zwischen Innovation und Verlust. Das Grundprinzip der Moderne ist demzufolge die Kontingenzöffnung, also das Mehr an Möglichkeiten, wie es in zugespitzter Form in den politischen, ökonomischen und wissenschaftlichen Revolutionen seit dem späten 18. Jahrhundert zum Ausdruck kommt. Doch wie jede dieser Revolutionen auch ihre Konterrevolution hervorgerufen hat, wird irgendwann jede Neuerung selbst hegemonial, kontingenzschließend - wogegen sich freilich stets eine neue Gegenkultur richtet. Die Logik der Moderne sei also eine ewige »Dialektik ohne Telos«, schreibt Reckwitz.

Und doch lassen sich in diesem ziellosen Widerstreit drei größere Abschnitte identifizieren, die Reckwitz als »bürgerliche«, »industrielle« und »Spätmoderne« bezeichnet. In der bürgerlichen Moderne scheint sich nach der kapitalistischen und demokratischen Revolution zunächst der Kampf zwischen Rationalismus und Romantik, Generalisierung und Singularisierung noch einigermaßen die Waage zu halten. Aber mit fortschreitender Industrialisierung nimmt die Logik der Verallgemeinerung überhand, die schließlich in der Massenkultur der von Helmut Schelsky so bezeichneten »nivellierten Mittelstandsgesellschaft« der Nachkriegszeit ihren Höhepunkt findet. Seit den 1970er Jahren jedoch setzte durch die Fusion von »Counter Culture« und Neoliberalismus eine neue Singularisierungswelle ein, die den digital-kognitiven Service- und Finanzkapitalismus unserer spätmodernen Gegenwart hervorgebracht hat. Dieser erweist sich aufgrund seiner kulturellen Durchdringung als ein »besonders ›harter‹ Kapitalismus«. Er macht mit der Entstehung einer »neuen Unterklasse« sowie der Verdrängung der alten industriellen durch eine neue akademische Mittelklasse auch die Problematik der »Moderneverlierer« in besonderer Weise virulent.

Multiple Krisen und Entfremdung

Reckwitz betont, dass die modernen Grundspannungen möglichst nicht zu einseitig aufgelöst werden sollten, das sei sein »Minimalnormativismus«. Er plädiert daher für eine aktuell nötige Stärkung des Allgemeinheitsprinzips, obwohl er prinzipiell die »intellektuelle Kontingenzöffnung« favorisiert und den ziellosen historischen Prozess der Moderne herausstreicht. Hartmut Rosa setzt sowohl normativer als auch systematischer an. Stärker als Reckwitz bringt er Struktur und Kultur, dritte und erste Person zusammen. Mit seinem gesellschaftstheoretischen Ansatz identifiziert er - als übergreifendes Strukturmerkmal sämtlicher Phasen der Moderne - das Prinzip der »dynamischen Stabilisierung«: Die moderne kapitalistische Gesellschaft kann sich nur im Modus einer stetigen Steigerung erhalten, ist also auf Wachstum, Beschleunigung und Innovation zwingend angewiesen.

Den modernen Subjekten erschließt sich nach Rosa zwar ein immer größerer Teil der Welt, ihre »Weltreichweite« wächst. Doch wird diese Welt durch ihre Verfügbarmachung zugleich immer weiter ausgebeutet. Die moderne Dynamik destabilisiert sich in der Eskalation, die Ungleichheit der Geschwindigkeiten, ihre »Desynchronisierung«, nimmt zu. Die Folge sind multiple Krisen und Entfremdung, ein »Verstummen« der menschlichen Weltverhältnisse. Von der marxistisch geprägten Kritischen Theorie der Frankfurter Schule übernimmt Rosa nicht nur den normativen Anspruch seiner Soziologie, sondern auch den Fokus auf die psychologische Dimension. Das mag manchmal ein wenig esoterisch anmuten, etwa wenn von »sozialer Energie« die Rede ist. Es ist aber zugleich der Grund, warum Rosa im Gegensatz zu Reckwitz auch einen umfassenden »Therapie«-Vorschlag für angezeigt hält.

Die zwanghafte Steigerungsdynamik der Moderne müsse man, so Rosa, durch eine »adaptive Stabilisierung« brechen, die nur dann auf Wachstum setze, wenn es angebracht sei. Wie nun auch die Macht des Kapitals zu brechen sei, das ja das Wachstum eigentlich hervorbringt, darüber erfahren wir freilich wenig. Rosas Klassenanalyse bleibt überwiegend psychologisch - darin ist sie allerdings bemerkenswert. Ein »zentraler ›Webfehler‹« der modernen Politökonomie bestehe darin, dass sie zwar wesentlich auf den kollektiven Produktionsverhältnissen beruhe, konzeptionell aber vollständig aus der individuellen Konsumtionsperspektive gedacht werde. Als Folge habe Charles Taylor schon in den 1980er Jahren den historischen Kompromiss identifiziert, »entfremdete Arbeit als Gegenleistung für ein hohes Konsumniveau zu akzeptieren«. Noch drastischer klingt Rosas Resümee: »Die dominante Selbstdeutung der Moderne, die in der Idee der Volkssouveränität als autonomer Bestimmung der Lebensform ihren Kulminationspunkt findet, erweist sich aus dieser Perspektive als Illusion.«

Revolutionäre Momente

Einen konkreten Weg zur »Wirtschaftsdemokratie« weist Rosa nicht. Dafür präsentiert er sein Konzept von »Resonanz«, das zumindest eine »begriffliche Entkopplung von Lebensqualität und Wachstum« verspricht. Das warenförmige Objektbegehren des Kapitalismus soll in ein auf produktiver Weltbeziehung beruhendes Resonanzverlangen verwandelt werden: in einen dialogischen Austausch mit Welt und Anderem statt einseitiger Ausbeutung. Nicht ganz klar wird, wie dieses »revolutionäre Moment innerweltlicher Transzendenz« tatsächlich zu einer »Umwälzung der Sozialformation führen könnte - vergleichbar dem Übergang von der feudalen zur modernen Gesellschaft« - ohne fundamentale Machtfragen zu stellen. Doch muss man immerhin Rosas revolutionäre Intention anerkennen. Reckwitz hingegen verbleibt ganz auf der Beschreibungsebene, wenn auch dort umso pointierter: »Das Leitmotiv der Moderne ist Revolution.« Diese Zuspitzung formuliert Reckwitz im abschließenden, vom Sozialphilosophen Martin Bauer moderierten Gespräch, das einige Gemeinsamkeiten in der Analyse, aber doch deutliche Unterschiede in der Stoßrichtung zwischen den Autoren erkennen lässt. So präsentiert etwa Reckwitz selbst seine Theorie als eine, die sich der kontingenten Strukturdynamik der Moderne in ihrer eigenen Form anschmiegt, während Rosa sich zum dezidierten »Modernekritiker« erklärt.

Interessanterweise werden beide Autoren mit ihrem neuen Buch aus ganz unterschiedlichen Richtungen des publizistischen Spektrums hart angegriffen, etwa von Mark Siemons in der »Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung« und von Alex Struwe in der »Jungle World«. Vor allem Reckwitz kommt schlecht weg. Denn während bei Rosa die Einsicht in die Herrschaftsverhältnisse lediglich unzureichend wirkt, scheint sie bei Reckwitz gar nicht erst erwünscht. In beiden Fällen aber könnte das zumindest ihren großen Erfolg erklären. Am jargonfreien Stil liegt es jedenfalls nicht, auch wenn Rosa sich immerhin etwas mehr um Anschaulichkeit bemüht. Als Einführung in ihre Theorien ist das Buch freilich dennoch gut geeignet.

Andreas Reckwitz und Hartmut Rosa: Spätmoderne in der Krise. Was leistet die Gesellschaftstheorie? Suhrkamp , 310 S., geb., 28 €.

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