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Trauer, Schmerz und qualvoller Tod

Über 100 000 Bundesbürger sind bisher an den Folgen einer Covid-19-Erkrankung gestorben. Es traf vor allem die Alten und Kranken

9. März 2020, 12.44 Uhr: In der Uniklinik Essen stirbt eine 89-Jährige an den Folgen einer Coronavirus-Infektion. Es ist das erste registrierte Todesopfer in Deutschland durch Sars-CoV-2. Die Frau wurde einige Tage vorher ins Krankenhaus eingeliefert und dort wegen ihres schlechten Allgemeinzustands gleich auf der Intensivstation behandelt. Ohne Erfolg, sie stirbt an einer Lungenentzündung. Nur rund eine Stunde später ist das zweite Todesopfer zu beklagen: Ein 78-Jähriger aus der Ortschaft Gangelt im nordrhein-westfälischen Kreis Heinsberg stirbt an Herzversagen nach einer Corona-Infektion. Der Mann litt an Vorerkrankungen wie Herzproblemen und Diabetes. Die Gemeinde ist nach einer Karnevalsveranstaltung, die zum Superspreading-Event wurde, zu diesem Zeitpunkt Deutschlands Hotspot.

Noch am gleichen Tag vermeldet das Robert-Koch-Institut (RKI) die beiden Todesfälle in seinem erst sechsten Tagesbericht zur Coronalage. Das Virus ist seit Ende Januar in Deutschland unterwegs. Die Sieben-Tage-Inzidenz liegt so niedrig, dass sie vom RKI noch nicht ausgewiesen wird. Doch die bestätigten Infektionen nehmen zu, sodass die Zahlen künftig »nicht mehr manuell aktualisiert« werden, wie die Bundesbehörde mitteilt. Bei erstmals mehr als 1000 Fällen pro Tag müsse man auf elektronische Datenübermittlung umstellen. Einige Tage später ruft die Weltgesundheitsorganisation die Pandemie aus.

Aus heutiger Sicht sehnt man sich fast in diese Zeit zurück. Sars-CoV-2 war ein exotisches Virus irgendwo aus China, das die Bevölkerung und die meisten Politiker eher nebenbei wahrnahmen. Als nun aber auch in Deutschland Tote zu beklagen waren, änderte sich das allmählich, und die mahnenden Stimmen wurden lauter. Die Fälle stiegen rasch an, so dass die Opfer nur noch als anonyme Zahlen in der offiziellen Statistik auftauchten. An diesem Donnerstag wurde die Marke von 100 000 Covid-Toten überschritten - was im März 2020 für die meisten unvorstellbar war.

Die Familien und Freunde blieben mit ihrem Leid meist allein. Unterstützung gab es vor allem aus der Zivilgesellschaft, etwa von den kirchlichen Seelsorgern. Nur im April dieses Jahres wurde bei einer zentralen Gedenkveranstaltung mit den Spitzen der Politik an die vielen Opfer erinnert. Dort kamen erstmals auch Hinterbliebene zu Wort, die von Trauer, Schmerz und qualvollem Tod nach tagelanger invasiver Beatmung in künstlichem Koma berichteten. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sprach von einem »Moment des Innehaltens, einem Moment jenseits der Tagespolitik«. Mehr war es letztlich nicht. Und Steinmeiers Ankündigung, wo es Fehler und Versäumnisse gegeben habe, müssten diese aufgearbeitet werden, ist bis heute uneingelöst geblieben. Dass es diese quer durch die Parteien und auch bei den regierungsberatenden Fachleuten etwa des RKI gab, ist unumstritten.

Doch wer sind die Toten? »Eigentlich war er ein Mann wie ein Baum, den hat so schnell nichts umgehauen«, sagt Leonhard H. über seinen Vater, der sich im Skiurlaub in Ischgl infizierte und acht Tage nach seiner Rückkehr im Alter von 54 Jahren an Multiorganversagen starb. Die Rapperin Brittanya Karma wurde nur 29 Jahre alt. Wenige Wochen vor ihrem Tod schrieb sie auf ihrem Youtube-Kanal: »Corona sollte ernster genommen werden. Bitte passt alle auf euch auf.« Der griechische Gastarbeiter Charilaos V. wurde immerhin 90 Jahre alt. Sein Sohn Georgios berichtet, besonders schlimm sei gewesen, dass sein Vater die letzten Tage auf der Intensivstation nicht mehr besucht werden durfte und er alleine starb. Die Familie war zwischen Hoffen und Bangen - in Erwartung des Anrufs aus der Klinik. Und Georgios hat auch einen Rat für andere, die durch Covid-19 einen schweren Verlust erleiden: »Man kann darüber reden, man muss offen sein, man darf sich nicht verschließen und gar nicht reden.«

Zwischen den vielen tragischen Einzelschicksalen und der spröden Gesamtstatistik gibt es eine weitere Ebene. Diese zeigt auf, für wen das Virus besonders gefährlich ist, und dies ist wiederum zentral für die Ausarbeitung von Gegenmaßnahmen. Demnach waren die ersten beiden Todesopfer im März 2020 ganz typische Fälle. Das Virus kann zwar im Prinzip jeden befallen, aber mit Blick auf das Sterberisiko macht das Alter den zentralen Unterschied: 84 Prozent der Todesopfer in Deutschland waren mindestens 70 Jahre alt. Über 50 Jahre waren fast 97 Prozent. Vorerkrankungen verstärken das Risiko noch, auch bei Jüngeren. Dazu zählt das RKI vor allem Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems, Diabetes, neurologische Störungen oder Lungen- und Nierenerkrankungen. Schwere Verläufe also Behandlung auf der Intensivstation, häufen sich zwar schon ab einem Alter von 40, aber diese Patienten haben zumindest sehr gute Überlebenschancen.

Und es gibt einen weiteren Aspekt, der anders als zu Beginn der Pandemie mittlerweile das Risiko deutlich zu minimieren hilft: bessere medizinische Behandlungsmöglichkeiten und vor allem die Impfungen. Sie reduzieren das Sterberisiko im Fall einer Covid-Infektion um den Faktor 10 bis 15, wie verschiedene Studien ergeben haben. Wobei bei Senioren und Menschen mit Immunschwäche eine dritte Impfung notwendig ist. Den relativen Erfolg sieht man aktuell: Während auf dem Höhepunkt der verheerenden zweiten Welle zur Jahreswende 2020/21 etwa halb so viele Infektionen registriert wurden wie heute, gab es damals täglich vier Mal so viele Todesfälle. In dieser Zeit starben Zehntausende Menschen binnen weniger Wochen, vor allem weil noch kaum jemand immunisiert war und die Altersheime schlecht geschützt wurden.

Zurück zum März 2020: Als noch kaum jemand das Ausmaß der Bedrohung wahrnahm, gab es auch das andere Extrem: Der Frankfurter Virologe Martin Stürmer sagte ganz locker in einem Interview mit dem »Deutschlandfunk«, man müsse mit »knapp 500 000 zusätzlichen verstorbenen Bürgern« rechnen, die Frage sei nur in welchem Zeitraum. Auch jetzt geistern wieder dramatische Modellierungen einzelner Experten für diesen Winter durch manche Medien, die auf wenig realistischen Szenarien fußen und sich daher nicht bewahrheiten werden.

Wobei aber auch klar ist: Für die Angehörigen der mittlerweile 100 119 Opfer und auch der künftigen ist dies kein Trost.

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