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- Theaterkritiker Günther Rühle
Kein fauler Staat ohne Hamlet
»Ein alter Mann wird älter«: Das merkwürdige Tagebuch des Theaterkritikers Günther Rühle
Nachbrennkraft. Ein Wort gegen das Elend des Theaters. Dessen Flüchtigkeit, die Auslöschung seines Glanzes im Fluss der Zeit. Günther Rühle hat sie oft beschworen, die Nachbrennkraft. Das also, was nach einer Aufführung lebendiges Erinnern bewirkt. Es ist wenig genug, abhängig vom Nachlieferdienst: der Theaterkritik. Zwei - jeweils über tausend Seiten dicke - Bände umfasst Rühles Geschichtswerk »Theater in Deutschland«, von 1887 bis 1966. Ein großes Werk. Den dritten Band, unvollendet, werden Hermann Beil und Stephan Dörschel herausgeben. Rühle kann das nicht mehr. Mit 97 Jahren gibt er nun zu Protokoll: »Ein alter Mann wird älter«. Er nennt es ein »merkwürdiges Tagebuch«. Ein kurzes Buch vom langen Abschied, um einen Handke-Titel abzuwandeln.
Rühle war als Kritiker einer der wenigen Erzähler. Um durch Berichterstattung überhaupt überliefert zu werden, gerät das Theater oft genug an die braven Seminaristen, an jene Sekundärtalente des Zeitungswesens, die keine eigene Sprache, sondern nur Vokabular haben. Rühle vereinte den Zusammenhangsgeist eines Herbert Ihering mit der Perlprosafähigkeit eines Alfred Polgar oder Alfred Kerr - dessen Werke er herausgab. Was bei ihm bestach: Theaterkritik als Sinnlichkeit, nicht als analytisches Trockenfutter im Windschatten der Leitartikel.
Oktober 2020 bis April 2021. Ein Mensch, »stillgestellt«. Der Tod macht sich an allem zu schaffen, was Körper ist. »Ich jammere mich ins Unbekannte«, schreibt der Autor, aber Klage wird im wahren Sinn des Wortes erhoben. Hier steigt ein Mensch erschrocken wie erheitert auf seinen Schmerz. Rühle ist dankbar für sein Leben, in dem »Hoffnung eine andere Art des Atmens war«.
Noch einmal leuchtet eine Existenz. Der Publizist, 1924 in Gießen geboren, war von 1974 an elf Jahre Kulturressortchef der »FAZ« (»wir galten als rotes Feuilleton«), danach Intendant des Schauspiels Frankfurt, dann Feuilletonchef vom »Tagesspiegel« und Präsident der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste in Frankfurt am Main. Er war kein Wanderer zwischen den Branchen, sondern ein Bewanderter. In den Funktionen, die er annahm, war er einnehmender Geist, und leitender Geist nimmt ein, indem er gibt - mehr Impulse als Instruktionen.
»Wagnis und Gelingen, Verlangen und Erhalten, Aufbruch und Stranden.« Das Theater als Ausdruck der Zeiten, etwa nach 1945: die Sehnsucht nach Kunst inmitten der Trümmer. Der erste Applaus im Kampf gegen das Knurren der Mägen. Die Heimkehr der Exilanten und deren Konflikt mit denen, die im Land geblieben waren. Das politische gegen das kulinarische Theater. Ästhetische Revolten und die Karriere des eisernen Vorhangs als politisches Hauptwort im Ost-West-Eiskanal. Was am Tagebuch einnimmt, ist eine Schreibweise, die unter allen Umständen (aber leicht!) über die Fährnisse und Niedrigkeiten eines Stoffes siegen möchte. Denn ohne Stil keine Wahrhaftigkeit.
Als Intendant in Frankfurt hat er Darsteller wie Martin Wuttke und Thomas Thieme ins Licht gehoben. Er förderte Einar Schleef, er hat die stärksten, schönsten, tiefsten Beschreibungen des genialen zarten Klotzes erschaffen - so, wie er überhaupt glänzend malerische Porträts schrieb (das war in Tageszeitungen einst möglich!), brillante Texte über die geheimnisvolle Marlene Dietrich, den schillernden Heinrich George. Die Nachbrennkraft.
Überhaupt sind Schauspieler für Rühle die Aufführung, erst durch sie entsteht sie. Für ihn unvorstellbar, ellenlang zu theoretisieren und zähe Bedeutungsprosa über eine Zeitungsseite zu ziehen - und die Akteure dann nur wie eine verordnete Zugabe (zwischen Klammern gesperrt!) in den Text zu setzen. Seine Essays wussten etwas vom Drama, und auch sein Tagebuch ist ein ermutigendes Schreiben gegen das Langweilige: Kunst nur herzunehmen, um durchblickseitel gesellschaftliche Verhältnisse zu bereden.
Rühle - das ist Gespür für jene Momente zwischen Steigen und Fallen, in denen sich die scheinbar einsehbaren, absehbaren Gesetze der Geschichte als das erweisen, was sie meistens sind: eine Abfolge eher zufälliger Geschehnisse, abhängig von den Launen und Leiden, den Lüsten und Lagen Einzelner, die zum richtigen Zeitpunkt eingreifen dürfen oder zum falschen Zeitpunkt loslassen müssen. An solchen Punkten ist Geschichtsschreibung nicht nur Verweis darauf, dass etwas faul ist im Staate Dänemark, sondern: Hamlet tritt auf.
Rebellisch ist Rühle in der beseelten Bejahung eines bürgerlichen Theaters geblieben (wie von den Regisseuren Klaus Michael Grüber und Peter Stein), das noch dort, wo es beerdigt wird (wie bei Frank Castorf), Energiequelle bleibt. Wie viele Untergänge gab es, und sie besaßen eine Kraft, an die so mancher Aufbruch nie heranreichte! Kunst kennt nicht den Untergang ihrer Wahrheit, weil diese jenseits von Wahr und Falsch, Versuch und Irrtum liegt. Weil sie das Unbegriffene der Welt und das Unbegreifbare des Menschendaseins in dieser Welt nicht abschleift zu ideologischem Nutzmaterial, sondern es als das ewig Unwandelbare begreiflich macht. Wenn einem diese Kostbarkeit bewusst wird, hat die Welt draußen schon verloren. Das ist der erste Schritt, um ihr beizukommen. Davon erzählt dieses Tagebuch.
Herausgeber ist Gerhard Ahrens. Im feinfühlig klugen Nachwort treten Benn und Jaspers, Goethe und Bernhard als Gewährsmänner eines Geistes hinzu, der nicht vorgefasst schreibt, sondern beim Schreiben (über Theater) die Fassung genau um jene Nuancen verliert, die das Beschreiben in Selbstentdeckung verwandeln. Der ein Leben lang vom Sehen genährt wurde, tastet sich nun nahezu blind durch letztes Gelände. So aufregend denkscharf, so liebenswert sarkastisch, so traurig kopferhoben, so heiter gedrückt. Im Unvollendeten illusionslos zu sein, aber tapfer hell zu bleiben, das ist wohl Vollendung.
Günther Rühle: Ein alter Mann wird älter. Ein merkwürdiges Tagebuch. Hrsg. v. Gerhard Ahrens. Alexander.Verlag. 232 S., geb., 22,90 €.
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