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Frau mit rotem Ballon

Hätten Sie’s gewusst? »Die unbekannte Astrid Lindgren« war auch eine gute Verlegerin und Lektorin

  • Alfons Huckebrink
  • Lesedauer: 4 Min.

Zu Leben und Werk so mancher bekannten Persönlichkeit scheint alles gesagt und fast alles bekannt geworden zu sein. Ihr Bild empfindet die Nachwelt als abgerundet, was zumeist »abgeschlossen« bedeutet. Zu diesen Persönlichkeiten zählt Astrid Lindgren, Schwedens erfolgreichste und weltweit bekannte Kinderbuchautorin.

Umso mehr überrascht es, wenn jemand ein weiteres, bisher gänzlich unbeachtet gebliebenes Kapitel dieser Lebensgeschichte aufschlägt und ebenso material- wie facettenreich dokumentiert: Astrid Lindgren als erfolgreiche Verlegerin. Kjell Bohlund ist das Kunststück gelungen, mit einer überaus spannenden Darstellung, die bereits 2018 in Schweden erschien und endlich auch, erweitert um zwei Kapitel über Lindgrens langjährige Geschäfts- wie Freundschaftsbeziehung zu ihrem Hamburger Verleger Friedrich Oetinger, auf Deutsch vorliegt.

24 Jahre arbeitet Lindgren beim schwedischen Verlag Rabén & Sjögren. Offiziell als Lektorin angestellt - die erste auf Kinderbücher spezialisierte überhaupt -, entwickelt sie in Wahrheit das Kinder- und Jugendbuchprogramm und betreibt es in eigener Verantwortung. Sie übernimmt ökonomisch betrachtet »ein sinkendes Schiff« (wie eine Kapitelüberschrift lautet) und rettet es vor dem Untergang.

Jeden Morgen sitzt sie zu Hause an ihren eigenen Werken; nachmittags arbeitet sie von 13 bis 17 Uhr im Verlag. Ein enormes Pensum, das Disziplin voraussetzt und ihr enorme Effektivität abverlangt. Bei all dem bleibt sie, wie die Zitate zahlreicher Zeitgenossen belegen, stets freundlich und begegnet ihren Autor*innen bis in den Tenor der eigenhändig verfassten Absagen mitfühlend und aufmunternd. Margareta Strömstedt, selbst Schriftstellerin und Astrids gute Freundin, urteilt in ihrer Biografie: »Sie war unermüdlich, wenn es darum ging, jemanden, der festgefahren war oder das Gleichgewicht verloren hatte, zu ermuntern und zu stützen. Sie war zartfühlend, aber streng.«

Unter ihrer Leitung erhebt sich die Kinderbuchabteilung des prekären Verlags - der ihr erstes Manuskript 1944 und zu Weihnachten 1945 ihren zweiten Titel »Pippi Langstrumpf« veröffentlicht, nachdem sie von Bonnier, Schwedens größtem Verlag, eine schnöde Absage erhalten hat - auf eine qualitativ völlig neue Höhe. Dabei arbeitet sie bis 1970 eng mit Dr. Hans Rabén, zunächst Miteigentümer, später Geschäftsführer des Unternehmens, zusammen. Ihre Doppelrolle als berühmte Autorin, deren Verkaufszahlen dem Verlag die weitaus größten Einnahmen verschaffen, und Lektorin meistert sie trotz mancher Anfeindungen mir der ihr eigenen Unbefangenheit glänzend.

Sie erweist sich zudem als kluge Geschäftsfrau, die sich zur Sicherung der finanziellen Grundlagen nicht scheut, auch seichtere, leicht verkäufliche Titel ins Programm aufzunehmen. So sichert sie dem Verlag die Rechte an der gesamten »5 Freunde«-Produktion der englischen Autorin Enid Blyton und muss sich darob manche Kritik gefallen lassen, vor allem von ihren Autor*innen, denen sie entgegenhält, dass sie mit den »5 Freunde«-Überschüssen die Publikation anspruchsvoller Manuskripte finanzieren kann.

Kjell Bohlund stellt detailliert dar, wie Astrid Lindgren sich auf allen Gebieten der Verlegertätigkeit bewährt: wie sie die Stellung der Illustrator*innen aufwertet, den Verkauf der Rechte ins europäische Ausland ankurbelt, sich um soziale Probleme ihrer Autoren*innen kümmert - und so maßgeblich zum »goldenen Zeitalter« der schwedischen Kinderbuchliteratur beiträgt.

Natürlich geht es auch bei ihr nicht ohne Konflikte ab. Und diese, etwa Auseinandersetzungen mit dem bekannten Illustrator Björn Berg, u. a. ihr »Michel«-Zeichner, der bei Rabén & Sjöberg erstmals für seine Berufsgruppe eine prozentuale Beteiligung am Umsatz durchsetzt, werden anhand passend gewählter Briefausschnitte plausibel dargestellt. Berg erteilt sie mitunter Ratschläge zur Optimierung der Cover-Gestaltung: »Lieber Björn, sei jetzt bitte nicht geknickt! Eine Frau und ein roter Ballon - das ist doch schnell gemacht, oder?« Am Ende bekommt sie ihre Wunschzeichnung, wenngleich mit gelbem Ballon.

Kjell Bohlund hat der weltweiten Astrid-Lindgren-Gemeinde ein reich illustriertes Buch voller Überraschungen geschenkt, das Einblicke in einen Arbeits- und Lebensbereich gewährt, der bisher im Verborgenen blieb. Eine kurzweilige Erzählung - dank Nora Pröfrocks Übersetzung auch auf Deutsch - mit beträchtlichem Informationsgehalt, die ihre Leser*innen in den Bannkreis einer bestaunenswerten Persönlichkeit zieht.

Kjell Bohlund: Die unbekannte Astrid Lindgren. Ihre Zeit als Verlegerin. A. d. Schwed. v. Nora Pröfrock. Friedrich Oetinger, 224 S., geb., 20 €.

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