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- »Rotes Erbe«
Fremder Vater so nah
Die einen nannten ihn »unverbesserlicher Kommunist«, die anderen »politischer Trottel«. In ihrem Buch »Rotes Erbe« begibt sich Ricarda Bethke auf die Spuren von Richard Schmincke
Im Alter, so heißt es, erwache aufs Neue die Kindheit. Das näher rückende eigene Ende vor Augen, versichert man sich der Anfänge. Wer waren Vater und Mutter, wie lebten und wie dachten sie? Das sind mehr als bloß persönliche Rückversicherungen, da öffnet sich plötzlich eine Jahrhundertperspektive mit all ihren Verheißungen und Sehnsüchten, Enttäuschungen und Irrtümern, mit Krieg und Verfolgung.
Ricarda Bethke, die 2001 bereits mit ihrem Buch »Die anders rote Fahne« die Geschichte kommunistischer Ideale und ihrer ideologischen Deformierungen anhand ihrer Kleinstadtjugend beschrieben hat, wendet sich in »Rotes Erbe« der Geschichte ihres Vaters Richard Schmincke zu, anfangs Modearzt, dann Sozialreformer und kommunistischer Landtagsabgeordneter in Sachsen, schließlich Stadtrat in Berlin-Neukölln.
Ricarda Bethkes Lebenstrauma: Acht Wochen nach ihrer Geburt nahm sich Richard Schmincke im August 1939 das Leben. Warum nur, so hat sie sich ein Leben lang gefragt - und auch ihre Mutter Änne, über 30 Jahre jünger als Richard Schmincke, ist über die Selbsttötung des geliebten Mannes nie hinweggekommen.
So unternimmt Ricarda Bethke, zu DDR-Zeiten Lehrerin für Kunsterziehung, mit über 80 Jahren eine Zeitreise. Die Frage treibt sie, was für ein Mensch ihr Vater war. Ein Modearzt mit viel Geld, der nach dem Ersten Weltkrieg sein bürgerliches Herkommen (aber nicht die Komfortansprüche) zurückließ und ein prominenter kommunistischer Funktionär wurde, der sich für die Oktoberrevolution in Russland begeisterte und als Stadtrat in Berlin für die Verbesserung der Krankenversorgung der Arbeiter stritt?
Die Tochter sammelte Zeugnisse Anderer über das Leben des Vaters. Auch fragt sie sich, ob sie ihm ähnlich sei: »Mein Wille, genau zu überprüfen, was für eine Art Kommunist Richard Schmincke war, wurde bestimmt von der Diffamierung, die das Wort Kommunist verstärkt nach 1989 in der Öffentlichkeit erfuhr.« Die Mutter Änne starb 1994 in Rudolstadt. Ihre hohe Stimme sei in den letzten Lebensjahren immer tiefer geworden, erinnert die Tochter. Und immer häufiger habe sie gemurmelt: »Das sind alles keine Kommunisten, das sind alles Nazis.« Was sie wohl damit gemeint habe, fragt sich die Tochter und ahnt: Am Ende bleiben bittere Enttäuschungen, über brutale Feinde und falsche Freunde.
Schmincke war 1933 nach dem Reichstagsbrand sofort in Gestapo-Haft gekommen, wurde wieder entlassen und erhielt 1939 als »unverbesserlicher Kommunist« Berufsverbot. Fassungslos erlebte er den Hitler-Stalin-Pakt, nahm sich kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges das Leben. Einige KPD-Funktionäre nannten ihn nach dem Krieg einen bloß gefühlsmäßigen Kommunisten, der ein »politischer Trottel« gewesen sei, auch weil er die »innerparteiliche Säuberung« in der KPdSU 1937/38 nicht verstanden und erst recht nicht gebilligt hatte.
Das »rote Erbe«, um das es hier in Gestalt des Vaters geht, ist also ein höchst widersprüchliches. Der Theaterwissenschaftler Ernst Schumacher schrieb zum 60. Jahrestag der Oktoberrevolution ein Poem auf Richard Schmincke, das dann 1977 bei einer Feier im Apollo-Saal der Berliner Staatsoper von Ekkehard Schall als Schmincke vorgetragen wurde. Darin heißt es: »... winters in Rapallo, / sommers an der Elster / Den Badearzt, den gefragten der / sechzigtausend Goldmark machte im Jahr.«
In der »Knochenmühle« des Ersten Weltkriegs, die ihn in Kontakt zu einfachen Menschen brachte, sei er zum Kommunisten geworden - etwas, das man in der bürgerlichen Schmincke-Familie als unverzeihlichen Verrat an der eigenen Klasse ansah. Die Autorin, die der Aufführung beiwohnte, ging danach nicht zur Premierenfeier, wollte Ekkehard Schall nicht treffen, von dem sie ein Jahr zuvor, als sie ihn wegen seiner - parteikonformen - Erklärung zur Biermann-Ausbürgerung befragen wollte, kurz abgefertigt worden war. »Wir hatten weder die Meinung noch die Kleidung, die dort hingehörte, in das sich selbst genießende und angepasste DDR-Bürgertum.«
Selbst wenn es um persönlichste Dinge geht, sind immer grundsätzliche geschichtliche Fragen mitgestellt, zeigt sich Dissens. Da gilt, was Walter Benjamin sagte, dass man nie die Geschichte, wie »sie wirklich gewesen ist«, erkennen könne, sondern sich der Erinnerung bemächtigen müsse, wie sie »im Augenblick einer Gefahr aufblitzt«. Erinnerung ist also immer Entschluss zur eigenen Lesart des Gewesenen.
In »Rotes Erbe« haben wir teil an der Erinnerungsarbeit Ricarda Bethkes, die auch die Kunst des Biografen berührt: aus lauter Puzzleteilen ein Bild zu schaffen, das Brüche nicht zudeckt, sondern verstehbar macht. Und so steht er vor uns, der massige Mann, ihr Vater, der einst ein Teil der gehobenen Gesellschaft war und immer noch - sogar in der Bedrängung - einen Sinn für Luxus bewahrte. Aber zugleich ein soziales Gewissen hatte, wie alle bestätigen, die ihn kannten. Und darin erkennt sich die Tochter wieder: »Wovon jemand lebt, das will ich auch immer sofort wissen. Es ist nicht Sitte, danach zu fragen, aber ich finde es geradezu herzlos oder verlogen, nicht darüber zu reden.«
Und die Mutter Änne, die ein träumerischer Mensch gewesen sei? Sie brach nach dem Freitod von Richard Schmincke zusammen, musste in die Psychiatrie gebracht werden. Das hatte im NS-Staat ein bitteres Nachspiel. 1940 erhielt sie vom Gesundheitsamt Rudolstadt die Aufforderung, sich in einer Rostocker Klinik sterilisieren zu lassen. Ein Polizist holte die Krankenschwester aus der Kinderklinik in Kühlungsborn ab, in der sie arbeitete und brachte sie ins Krankenhaus nach Rostock. Dort empfing man sie freundlich (eine Kollegin immerhin) und setzte dann doch gleichgültig-gewaltsam die behördliche Anordnung um. Eine schockierende Szenerie, von Änne selbst detailliert notiert.
So haben wir teil an vielen Facetten Richard Schminckes und denen, die mit ihm zusammenlebten oder mit ihm arbeiteten. Die Spurensuche reicht bis in die DDR-Zeit und darüber hinaus. »Wir waten knietief im Schlamm der Geschichte«, zitiert die Autorin den irischen Erzähler Sebastian Barry.
Ricarda Bethkes Fazit nach ihrer langwierigen Recherche, die auch eine Zeit der Verinnerlichung wurde, lautet: »Ich habe diesen Mann, der mein Vater war, nie gekannt. Das stimmt und stimmt nicht. Fast denke ich jetzt, ich kenne niemanden so gut wie ihn.«
Ricarda Bethke: Rotes Erbe: Auf der Suche nach Richard Schmincke, meinem Vater. Vergangenheitsverlag, 335 S., br., 20 €.
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