Bilder von Nähe und Ferne

Ausstellung in Berlin zeigt Arbeiten der letzten Meisterklasse der renommierten DDR-Fotografin Ute Mahler

  • Tom Mustroph
  • Lesedauer: 5 Min.

Sich die Zeit nehmen, um Bilder zu komponieren, muss wohl das Motto der letzten Meisterklasse der renommierten DDR-Fotografin Ute Mahler, Jahrgang 1949, gewesen sein. In den Arbeiten der zwölf Schülerinnen und Schüler, die teils selbst längst gestandene Fotografen sind, wie etwa der nd-Bildredakteur Frank Schirrmeister, spielt jedenfalls der Faktor Zeit eine große Rolle. Und auch von der Lust zum Verfolgen ungewöhnlicher Konstruktions- und Dekonstruktionsprinzipien lassen sie sich inspirieren und leiten. Manuela Braunmüller beispielsweise zerlegt ein Huhn. Jedes einzelne Knöchelchen hat sie fotografiert. Jetzt sind sie im Projekt »One Chicken« weiß auf schwarz in kleinen Vierecken angeordnet und bedecken in stringent-systematischer Form, wie man sie aus der Schule vom Periodensystem der Elemente her kennt, eine Wand in der Kommunalen Galerie Berlin.

Viel Zeit ist in die Landschaftsaufnahmen von Richard Rocholl geflossen. Für seine Serie »Bergland« fotografierte er Abraumhalden. Auf seinen Fotos wirken sie wie Gebirgszüge. Mächtig türmen sie sich auf. Oft verbrachte Rocholl mehrere Tage und Nächte dort, erzählte er beim Ausstellungsrundgang. Er übernachtete im Auto und wartete auf den Moment, in dem das Licht der Sonne mit der exakt richtigen Strahlkraft auf sein ausgewähltes Großobjekt schien. Für Rocholl enthalten die Abraumhalden noch ein weiteres Zeitmoment. Denn oft verdecken sie, was Menschen an Müll, Schrott, Chemikalien und anderen Dingen, die sie aus den Augen haben wollten, in die Gruben und Stollen unter den Halden kehrten und versteckten. Umweltunverträglich, Pandorabüchsengleich.

Einen noch ungewöhnlicheren Zugang zu Zeit und Erdoberfläche verfolgte Sabine Jaehnke. Die schon während der Zeit der Meisterklasse verstorbene Fotografin und diplomierte Bauingenieurin bearbeitete Briefe aus ihrer Jugendzeit. In DDR-Jahren verschickte die gebürtige Dresdnerin die Briefe in alle Welt, nach Singapur und Hawaii, nach Wellington in Neuseeland und Port Moresby auf Papua-Neuguinea. Sie hatte sich allerdings die Adressen ausgedacht. Und die Post beförderte die Briefe nach vergeblicher Suche nach den Adressaten wieder brav retour zu ihr nach Dresden. So drang die weite Welt ins Tal der nicht immer Ahnungslosen. Jaehnke hat die Briefe sehr fantasievoll gestaltet. Sie fertigte Collagen aus Muscheln, Schnecken und Meeresbildern an, Blumenornamentik umrahmt Gesichter. Nun sind die mit Stempeln und »Retour«-Vermerken überpflasterten Briefumschläge in der Berliner Galerie zu bewundern, ebenso einige der Briefe. Jaehnkes Projekt »Funafuti« aus einer längst vergangenen Zeit ist das wohl ungewöhnlichste in dieser Meisterklassenschau.

Diese erweist sich als sehr nah am Leben der Fotografinnen und Fotografen, zuweilen bis in intime Bereiche gehend. Karolin Klüppel zeigt, ausgehend von der Geburt ihres ersten Kinds, den Raum, den eine Mutter und ihr Baby um sich herum kreieren. Statt klassischer Madonnenbilder beleuchtet sie in »No Room of One’s Own« Zusammenhänge, die sich durch die Verbundenheit der beiden voneinander abhängigen Wesen herstellen. Der Schmerz über den Verlust des eigenen Raumes, den Klüppel im Titel andeutet, ist aus den Bildern allerdings kaum herauszulesen. Frank Schirrmeister geht in seiner Serie »Die besten Jahre« ebenfalls von der Geburt seines Kindes aus - und zeigt den Wirbel, den dieses Ereignis in sein Leben brachte. Da ist er einmal mit dem Baby zu sehen; dann wiederum präsentiert sich das Kind stolz im Faschingskostüm; Großaufnahmen von Händen und Momentaufnahmen, in der Natur gemacht, folgen und wechseln sich ab.

Auf persönlichen Lebensgeschichten beruht auch die den Ausstellungstitel prägende Serie »Kommen Sie aus Europa?« von Diego Reindel. Er erzählt die Odyssee einer durch Flucht getrennten afghanischen Familie. Vater und Sohn schaffen es auf abenteuerlichen Wegen nach Europa. Sie erkämpfen sich auf dem Instanzenweg sogar ein Abschiebeverbot. Daraufhin will der Vater die Ehefrau und den zweiten Sohn nachholen. Er reist in den Iran, um dort die hierfür benötigte Heiratsurkunde zu holen, verliert aber seinen Pass - und muss laut Auskunft der afghanischen Botschaft in Iran bis zu sechs Monate auf einen neuen warten. Seinen Sohn kann er aber nicht allein in Deutschland zurücklassen. Und so tritt er erneut, dieses Mal mit Frau und zweitem Sohn, die Flucht über das Mittelmeer an. Mit Bildern des in Deutschland wartenden Sohnes und Einblendungen von privaten Briefen und offiziellen Nachrichten inszeniert Reindel diese berührende Geschichte. Das »Hi, how are you«, das Vater Mohammad auf seiner Irrfahrt oft zu hören bekam, war titelgebend für die Ausstellung.

Anliegen der Meisterklasse ist es, die eigenen fotografischen Fertigkeiten stetig zu verbessern. Das schließt technische Fragen ebenso ein wie konzeptuelle Herangehensweisen und Präsentationsformen. Schirrmeister stellt vor allem die Prozesshaftigkeit der Arbeit als Gewinn heraus. »Jedes einzelne der Projekte hier hat sich im Laufe der Zeit stark verändert und entwickelt«, erzählt er.

Von Ute Mahler schon früher ausgebildet, wollte er jetzt bei der letzten Meisterklasse der mittlerweile 72-jährigen Fotografin noch einmal dabei sein. Diese hatte sich zu DDR-Zeiten als Modefotografin, vor allem in der legendären Zeitschrift »Sibylle«, einen Namen erarbeitet. Sie war ebenso als Reportagefotografin erfolgreich. Sehenswert auch - oder gerade - nach vielen Jahrzehnten sind ihre Fotoserien wie »Jugendweihe in Ostberlin«, »Zusammen Leben« oder »Striptease in der DDR«. Nach dem Mauerfall gründete sie die Agentur Ostkreuz, die Aufmerksamkeit und Anerkennung durch rege und vielfältigste Veröffentlichungen in Zeitungen und Magazinen sowie aktive Ausstellungstätigkeit und Dokumentationen errang. Zu Letzteren gehören die Serie »Taliban-Land« von Johanna-Maria Fritz über Afghanistan wie auch »Impfzentren in Deutschland« von Sebastian Wells. Einige Mitglieder der Agentur, darunter Fritz und Wells, hatten zuvor an der Ostkreuzschule, der agentureigenen Ausbildungsstätte, ihr Handwerk erlernt.

Man darf gespannt sein auf die weiteren Wege und Arbeiten dieser elf Meisterschülerinnen und -schüler. Ihre letzte Meisterklasse leitete Ute Mahler übrigens gemeinsam mit Ingo Taubhorn, dem Kurator der Hamburger Deichtorhallen.

»Hi How Are You. Meisterklasse Ute Mahler und Ingo Taubhorn - Ostkreuzschule für Fotografie«, Kommunale Galerie Berlin, Hohenzollerndamm 176, bis 30. Januar; geöffnet Di bis Fr 10 bis 17 Uhr, Mi bis 19 Uhr, Sa und So 11 bis 17 Uhr; Eintritt frei.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -