Neuerkrankung nach Covid-19

Auch bei Erwachsenen kann sich in seltenen Fällen Typ-1-Diabetes neu entwickeln

  • Angela Stoll
  • Lesedauer: 5 Min.

Sie ist fit, fröhlich und schlank: Kaum jemand würde bei der Sportlehrerin Lara P. (Name geändert) eine Krankheit vermuten. Als die 54-Jährige im Café auf einmal mit einem Insulin-Pen hantiert, ist ihr Gegenüber daher überrascht: Diese Frau soll Diabetiker-in sein? Dann beginnt Lara, ihre Geschichte zu erzählen. Nämlich davon, dass bei ihr erst vor ein paar Monaten Diabetes vom Typ 1 diagnostiziert wurde, nachdem sie zwölf Kilo in zwei Monaten verloren hatte. »Viele Leute meinen, Typ 1 würden nur Kinder und Jugendliche bekommen, und sind deshalb erstaunt.« Es stimmt zwar, dass diese Form von Diabetes vor allem bei jungen Menschen festgestellt wird - die Krankheit kann aber grundsätzlich in jedem Alter neu auftreten.

»Bei Menschen ab 40 ist Diabetes vom Typ 2 so häufig, dass die paar wenigen Patienten mit neu aufgetretenem Typ 1 leicht übersehen werden«, sagt der Tübinger Diabetologe Andreas Fritsche, Vizepräsident der Deutschen Diabetes Gesellschaft. »Es besteht die Gefahr, dass diese Krankheit bei Erwachsenen nicht gleich erkannt wird und die Patienten zu spät mit Insulin behandelt werden.« Ärzte sollten bei typischen Symptomen, die auf die »Zuckerkrankheit« hinweisen, daher auch an Diabetes vom Typ 1 denken. Dazu gehören ständiger Durst, starker Harndrang, Gewichtsverlust und Schwäche. »Meine älteste Patientin, bei der diese Typ 1-Diabetes-Krankheit neu aufgetreten ist, war 81 Jahre alt.«

Diabetes mellitus – das Wichtigste in Kürze

Hintergrund: Bei der Stoffwechselkrankheit Diabetes mellitus sind die Blutzuckerwerte dauerhaft erhöht. Dazu kommt es, weil zu wenig Insulin im Blut ist oder die Körperzellen nicht genügend darauf ansprechen. Das Hormon sorgt dafür, dass die Zellen den Zucker aus dem Blut aufnehmen können.


Formen: Bei Typ-1-Diabetes produziert der Körper kein oder wenig Insulin. Oft bricht die Krankheit in jungen Jahren aus und beginnt abrupt. Je früher sich diese Diabetesform bemerkbar macht, desto aggressiver ist die Krankheit in der Regel. Sie ist bisher nicht heilbar, Patienten sind lebenslang auf Insulin angewiesen. Der verbreitetere Typ 2 entwickelt sich schleichend und macht sich oft erst im höheren Alter bemerkbar. Dabei werden die Zellen allmählich unempfindlicher gegen Insulin, sodass langfristig der Blutzuckerspiegel steigt. Neben erblichen Veranlagungen sind bei diesem Typ Übergewicht und Bewegungsmangel die Hauptursachen. Daneben gibt es weitere Diabetes-Formen, etwa den Schwangerschaftsdiabetes: Er verschwindet meist nach der Entbindung, erhöht aber das Risiko für eine spätere Typ-2-Diabetes.


Symptome: Anzeichen für einen Typ-1-Diabetes können häufiges Wasserlassen, starker Durst, Gewichtsverlust und Schwächegefühl sein. Bei Typ-2-Diabetes fehlen typische Symptome dagegen oft lange Zeit, daher wird die Krankheit häufig erst spät erkannt. Am ehesten fallen Müdigkeit, trockene Haut und Infektanfälligkeit auf. ast

Lara P. hatte das Glück, dass sie bereits einiges über die Krankheit wusste. Vor ein paar Jahren war nämlich bei ihrer Schwester Diabetes vom Typ 1 festgestellt worden, und zwar, als diese 48 Jahre alt war. Vorausgegangen waren zwei üble Jahre, in denen sie falsch, nämlich als Typ-2-Diabetikerin, behandelt worden war. Auch Lara wurden vom Hausarzt zunächst Metformin-Tabletten verschrieben, mit denen üblicherweise Typ-2-Diabetes behandelt wird. »Es ging mir immer schlechter«, erinnert sie sich. Deshalb wandte sie sich direkt an einen Facharzt und sprach ihn auf ihren Verdacht an: »Vielleicht ist es auch bei mir Typ-1-Diabetes, wie bei meiner Schwester?« Dass sie damit richtig lag, zeigten die Labortests. Lara P. bekam nun Insulin - und fühlte sich endlich besser.

Mediziner stufen Typ-1-Diabetes als Autoimmunerkrankung ein. Körpereigene Abwehrzellen zerstören die Betazellen der Bauchspeicheldrüse, die das lebenswichtige Insulin herstellen. Aber wie kommt es dazu, dass Erwachsene plötzlich erkranken? Die Anlage dazu haben sie normalerweise von Geburt an. Daneben spielen Umweltfaktoren wie Infektionen und Stress eine Rolle. Ein bereits leicht angeschlagenes Organ könne durch besondere Belastungen aus dem Gleichgewicht gebracht werden, wie Fritsche erklärt: »Das ist wie bei einer Fabrik, die bereits am Rande ihrer Kapazitäten ist. Kommt Stress dazu, bricht die Produktion zusammen.«

Es gibt aber auch Wissenschaftler, die davon ausgehen, dass bestimmte Viren die Bauchspeicheldrüse direkt schädigen. Im Verdacht stehen vor allem Enteroviren, aber auch zum Beispiel Influenza-, Röteln- und Zytomegalieviren. Daher arbeiten Forscher an einer Impfung gegen bestimmte Enteroviren, die Kinder vor Typ-1-Diabetes schützen soll.

Auch bei Lara P. hat es ein Ereignis gegeben, das den Ausbruch der Krankheit erklären könnte: Sie war ein paar Monate zuvor an Covid-19 erkrankt. »Sechs Monate lang habe ich an Müdigkeit und Schwäche gelitten.« Ein paar Wochen später merkte sie beim Autofahren auf einmal, dass etwas anderes nicht stimmte. »Ich war erschrocken, weil ich die Schilder nicht mehr lesen konnte.« Vom Arzt erfuhr sie, dass es sich um ein Diabetes-Symptom handelte: Wenn der steigende Blutzuckerspiegel den osmotischen Druck im Auge erhöht, kann das dazu führen, dass man vorübergehend unscharf sieht.

Kann Covid-19 also Diabetes auslösen? »Ja«, antwortet der Diabetologe Stefan Bornstein, Direktor des Zentrums für Innere Medizin an der Technischen Universität Dresden. »Um ein Massenphänomen handelt es sich aber nicht.« Der genaue Mechanismus sei noch unklar. Inzwischen sei nachgewiesen, dass das Virus die Inselzellen der Bauchspeicheldrüse infizieren könne, sagt der Experte. »Es ist vorstellbar, dass durch die Zerstörung der Zellen direkt Diabetes ausgelöst wird.« Tatsächlich wurde im vergangenen Jahr ein 19-jähriger Patient mit Symptomen eines neu aufgetretenen Typ 1-Diabetes am Uniklinikum Schleswig-Holstein behandelt. Ein paar Wochen zuvor hatte er sich offenbar mit Corona infiziert. Die Besonderheit: Autoantikörper, wie sie normalerweise bei dieser Diabetesform gebildet werden, ließen sich bei ihm nicht finden. Die Vermutung lag nahe, dass Sars-CoV-2 bei ihm direkt die Betazellen angegriffen hatte. Beweisen ließ sich das nicht: Dazu hätte man ihm eine Gewebeprobe aus der Bauchspeicheldrüse entnehmen müssen, was ethisch nicht vertretbar wäre. »Der Patient leidet immer noch an einem Diabetes, benötigt nun aber weniger Insulin als zu Beginn«, berichtet der Internist Tim Hollstein, der die Beobachtung publiziert hatte. Möglicherweise hat sich die Bauchspeicheldrüse also wieder etwas erholt - auch das könnte ein Hinweis darauf sein, dass Covid-19 die Erkrankung ausgelöst hatte. »Bei einem ›regulären‹ Typ-1-Diabetes wäre dies eher nicht der Fall.«

Fälle wie diese seien wahrscheinlich nicht häufig, sagt Bornstein. Er hält es aber auch für möglich, dass das Coronavirus eine Autoimmunreaktion anstößt und auf diese Weise Diabetes triggert. »Das ist deutlich häufiger und trifft eher ältere Erwachsene.« Um einen Überblick zu gewinnen, sammelt Bornstein gemeinsam mit Forschern aus aller Welt Fälle, in denen Covid-19-Patienten neu an Diabetes erkrankt sind, in einem Patientenregister (»CoviDiab Registry«). »Es wird dauern, bis die Dinge erfasst sind. Bestimmt werden wir da noch einiges erleben«, meint der Stoffwechselexperte.

Auch Lara P. kennt die Diskussion um Covid. Wichtiger ist für sie derzeit aber, mit der neuen Situation zurecht zu kommen: Im Moment hofft sie, endlich an einer Patientenschulung teilnehmen zu können.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.