»Nicaragua ist in Angst verstummt«

Der Menschenrechtsexperte Juan Carlos Arce über die Lage nach dem Wahlsieg von Daniel Ortega

  • Knut Henkel
  • Lesedauer: 4 Min.
Risse im Machtsystem von Ortega sind nicht sichtbar: Brotverkäuferin in Masaya
Risse im Machtsystem von Ortega sind nicht sichtbar: Brotverkäuferin in Masaya

Die Wahlen in Nicaragua – von den USA und der EU als Fake und als Spektakel zum Machterhalt bezeichnet – liegen rund einen Monat zurück. Wie geht es weiter?
Wir nennen das Stimmabgabe, nicht Wahl, denn es gab nichts zu wählen, und in den Tagen nach der Stimmabgabe wurde nach und nach bekannt, dass ein weiteres Dutzend bekannter Oppositioneller verhaftet worden war. Die Repressionswelle hat dazu geführt, dass zivilgesellschaftliche Organisationen de facto demobilisiert sind – es traut sich niemand mehr, den Kopf zu heben. Selbst Senioren von 80 Jahren sind nicht vor einer Verhaftung gefeit. Nicaragua ist in Angst verstummt.

Interview
Juan Carlos Arce ist Anwalt und Menschenrechtsexperte aus Nicaragua, genauer Matagalpa. Dort war der 41-jährige Jurist bis Dezember 2019 tätig. Dann musste er ins Exil nach Costa Rica fliehen und widmet sich von dort aus weiter der Menschenrechtsarbeit. Knut Henkel sprach mit ihm über die Lage nach den Wahlen in Nicaragua.

Schlägt sich das in steigenden Flüchtlingszahlen nieder?
Ja, offiziellen Zahlen zufolge haben dieses Jahr 95 000 Menschen Nicaragua verlassen. Sie sind geflohen vor der Diktatur. Das sind mehr als 2018. Diese Zahl steht für die Verzweiflung, für die Perspektivlosigkeit in meinem Land. Davon sind 47 000 in Costa Rica angekommen, wo auch ich im Exil lebe. Viele Tausende sind über Mexiko auf dem Weg in die USA. Das ist ein Exodus, den Nicaragua in dieser Heftigkeit zuletzt im Bürgerkrieg erlebt hat.

Wie bekommen Sie und Ihr »Kollektiv Nicaragua Nie Wieder«, das für die Menschenrechte und für faire Wahlen eintritt, von Verhaftungen und Repression mit?
Über Freunde, Bekannte, ein Netzwerk vor Ort. Allerdings werden Verhaftungen von den Familienangehörigen oft erst spät angezeigt – in der Hoffnung, dass ihre Verwandten, Väter, Söhne, Ehemänner wieder freigelassen werden. So vergehen manchmal zwei und oft auch mehr Wochen, bis wir von einer Verhaftung erfahren. Harry Chávez, Ökonom und Ex-Mitarbeiter des Instituts für Demokratie und Entwicklung (Ipade) wurde am 6. November verhaftet. Doch die Familie wartete einen Monat, bis sie die Verhaftung bestätigte.

Haben Sie Informationen aus den Gefängnissen des Landes?
Ja, wir nehmen in Costa Rica immer wieder Flüchtlinge in Empfang, die uns frische Folterspuren zeigen, die traumatisiert sind. Wir haben 116 Fälle dokumentiert, und das Spektrum der Folter ist weit: Schlafentzug, Nahrungsentzug, Schläge, Demütigungen, kein Zugang zu medizinischer Hilfe oder psychologische Folter. Wir wissen von Fällen, wo den Eltern Fotos ihrer Kinder vorgelegt wurden und ihnen angekündigt wurde, sie zu vergewaltigen. So erging es einem Bauernführer; andere wurden mit dem Erstickungstod bedroht. Wieder andere konnten nach 85 Tagen das Gefängnis verlassen und hatten 25, 30 Kilogramm Gewicht verloren.

Gibt es die Chance auf einen Dialog – auf einen friedlichen Ausweg?
Daniel Ortega bereitet einen Dialog vor, allerdings mit denjenigen, die er auswählt. So wird der Dialog zum Monolog. Ein Beispiel: Zwei Vorsitzende der Cosep, des Unternehmerverbandes, sind verhaftet worden, um den dritten nach oben zu bringen, denn das ist ein Mann Ortegas.

Daniel Ortega macht auch vor seinen ehemaligen Mitkämpfern nicht halt?
Ja, auch dafür gibt es mehrere Beispiele, so Víctor Hugo Tinoco, ehemaliger Außenminister oder Sergio Ramírez, Ex-Vizepräsident.

Wie wird es weitergehen? Wie kann Ortega weiter regieren – wie funktioniert das?
Schwer zu sagen. Ortega hat sich gerade von Taiwan gelöst und ist zu China geschwenkt. Ob ihm das Ressourcen bringt, politischen Rückhalt, das weiß ich nicht. Über Jahre kamen die Ressourcen aus Venezuela, und vieles davon ist auf den Konten des Ortega-Clans gelandet. Das waren die fetten Jahre der Ortegas, und in diesen Jahren hat sich die FSLN aus einer Partei auch zu einer ökonomischen Maschine gewandelt. Die Kinder Ortegas stehen heute Fernsehanstalten, Unternehmen vor, und direkte Sanktionen durch die USA und andere treffen diese Unternehmen nun – das ist positiv.

Klingt, als ob ökonomische Sanktionen den Ortega-Clan treffen?
Definitiv, aber es gibt mehrere Unbekannte. Denn Nicaragua erhält unter anderem Unterstützung aus Russland und hat vor ein paar Jahren 50 Panzer von Moskau gekauft. Details über die Kooperation sind streng geheim. Gerüchten zufolge gibt es ein Abhörzentrum in Las Colinas de Managua unter russischer Ägide. Auch der Nahverkehr in Managua wird mit russischen Bussen abgewickelt. Und in Nicaragua wird mit »Sputnik« geimpft – aber niemand weiß, wie viele Impfdosen zu welchem Preis eingekauft wurden. Russland ist eine unbekannte Größe in diesem Kontext und könnte das Regime Ortega weiter entscheidend stützen. Was wir brauchen, sind aber Risse in dem Apparat um Daniel Ortega selbst – und die sind bisher nicht sichtbar.

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