»Es geht nicht um Eitelkeit«

Der chinesische Exil-Künstler Ai Weiei über die Hoffnungen der Unterdrückten

  • Philipp Hedemann
  • Lesedauer: 8 Min.

Ai Weiwei, was bedeutet Ihnen persönlich Freiheit?

Freiheit ist für mich fast wie eine Religion. Zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten kann Freiheit etwas sehr Unterschiedliches bedeuten. Aber ich glaube, dass es in unserem Herzen immer und überall etwas sehr Tiefgründiges, sehr Geheimnisvolles gibt, und dass wir begierig darauf sind, herauszufinden, was genau es ist. Dazu braucht man Freiheit. Deshalb ist Freiheit für mich kein Ziel, sondern immer nur eine Richtung. Niemand hat echte Freiheit jemals gesehen. Freiheit erfordert ständigen Kampf.

Ai Weiwei
Er ist einer der wichtigsten Künstler der Gegenwart und einer der lautesten Kritiker Chinas. Jetzt ist Ai Weiweis Autobiografie »1000 Jahre Freud und Leid« im Penguin Verlag erschienen. Als Kind hat der heute 64-Jährige erlebt, wie sein Vater, der Dichter Ai Quing, verbannt wurde und mit ihm in einer Erdhöhle lebte. Ai Weiwei studierte dennoch an der Filmhochschule in Peking, lebte in New York und kehrte 1993 nach China zurück, äußerte er sich immer wieder regimekritisch.

2011 wurde er verhaftet und nach 81 Tagen Haft freigelassen. Als er 2015 seinen Pass zurückerhielt, ging er ins Exil – zuerst nach Berlin, dann ins britische Cambridge und seit dem Frühjahr 2021 lebt er in der portugiesischen Kleinstadt Montemor-o-Novo. Im Interview mit Philipp Hedemann spricht Ai Weiwei über die Angst vor einem übermächtigen China, warum er Berlin nicht mag, und er verrät, warum er in Zukunft weniger Kunst machen möchte.

Führen Sie diesen Kampf?

Der Kampf um Freiheit ist der wichtigste Kampf meines Lebens. Es sollte der wichtigste Kampf in jedem Leben sein. Ich bin mir dessen sehr bewusst und führe deshalb permanent diesen Kampf. Aber viele Menschen haben das Pech - oder das Glück? -, dass sie sich dessen nicht bewusst sind.

Muss die Welt Angst vor China haben?

Es wäre so, als ob eine Eiche Angst vor einer Birke oder einem Ahornbaum hätte. Es sind einfach unterschiedliche Bäume. Ein Problem wird daraus nur, wenn ein Baum so groß wird, dass seine Krone den anderen Bäumen das Licht nimmt und seine Wurzeln das ganze Wasser aufsaugen. Zwischen den Bäumen herrscht deshalb ein ständiger Kampf. Solange man auf seine eigene Identität vertraut, muss man keine Angst vor diesem Kampf haben. Allerdings: China ist heutzutage nicht nur ein Baum, es ist ein Wald. Und China pflanzt in Afrika, Südamerika und Europa weiterhin fleißig Bäume. Manchmal kommt es vor, dass eine invasive Art einheimische Arten verdrängt.

Also ist Angst vor China berechtigt?

China hat zweifelsohne großes Potenzial und die Fähigkeit zu verdrängen. Wenn die anderen Bäume sich nicht hartnäckig wehren, dann wird China die Oberhand gewinnen. Das ist klar! Die chinesischen Bäume sind sehr stark. China hat definitiv den Willen, eine Supernation zu werden und die Welt wirtschaftlich und kulturell zu dominieren.

Vor zehn Jahren wurden Sie in China wegen angeblicher Steuerhinterziehung festgenommen und saßen 81 Tage in Haft. Hätten Sie Angst, erneut verhaftet zu werden, wenn Sie nach China zurückgingen?

Ginge ich zurück nach China, könnte es jederzeit passieren. Vor der Haft hätte ich keine Angst. Aber ich fürchte, dass sie mich anders leiden lassen würden.

Wie könnte das geschehen?

Indem sie meine Beziehungen zur Realität abschneiden. Indem sie mich in einem Raum isolieren und mich weder meinen Anwalt noch meine Mutter anrufen lassen. Das würde bedeuten, dass das Leben beendet ist, bevor man stirbt. Ich hätte Angst, dass sie dafür sorgen würden, dass meine Stimme nicht mehr gehört werden kann. Außerdem möchte ich nicht, dass mein Sohn seinen Vater so früh verliert. Er ist erst zwölf Jahre alt.

Sie haben von 2015 bis 2019 in Berlin gelebt, gearbeitet und gelehrt. Aber in Ihrer jetzt erschienenen Autobiografie erwähnen Sie Berlin kaum. Haben Sie gerne in Berlin gelebt?

Nein! Alle mögen Berlin. Ich nicht. Ich mag den Sonnenschein, aber in Berlin sind die Winter kalt und lang. Außerdem: Berlin ist zu dreckig und zu faul. Was ist bloß mit dieser Stadt los? Niemand schneidet dort einen Baum oder kehrt die Straße. Alles ist so kaputt! Dabei gibt es in Berlin doch so viele Migranten. Gebt ihnen einfach ein wenig Geld und lasst sie die Arbeit machen. Aber das passiert nicht! Berlin ist eine Stadt ohne Hoffnung. Man kann doch nicht die drittmächtigste Nation der Welt sein, aber eine Hauptstadt wie ein Dritte-Welt-Land haben! Gucken Sie sich doch nur den Flughafen und die Infrastruktur an! Außerdem gefällt es mir nicht, dass die Taxifahrer in Berlin alle aus der Türkei kommen.

Was für ein Problem haben Sie mit Taxifahrern aus der Türkei?

Dass sie in dritter Generation in Berlin leben und immer noch Taxi fahren. Das ist für mich kein gutes Zeichen.

Es ist nicht das erste Mal, dass Sie hart über Berlin und Deutschland urteilen. Als Sie vor zwei Jahren von Berlin nach Cambridge gezogen sind, haben Sie über Deutschland unter anderem gesagt, es sei autoritär, fremdenfeindlich, bigott und intolerant. Viele empfanden Ihre Kritik als sehr pauschal und ungerechtfertigt.

Niemand mag mich. Aber das mag ich. Denn ich bin in einer Gesellschaft aufgewachsen, in der mich niemand mochte.

Dass Sie in Deutschland niemand mag, stimmt nicht. Als Sie inhaftiert waren, hat die deutsche Regierung sich zusammen mit deutschen Künstlern, Menschenrechtlern und Wissenschaftlern vehement für Ihre Freilassung eingesetzt. Viele waren auch deshalb von Ihrem Deutschland-Bashing schockiert. Sind Sie undankbar?

Nein, ich bin dankbar für das, was Deutschland für mich getan hat. Aber wenn die Deutschen zu mir sagen. »Wir haben Dein Leben gerettet. Wir haben für Dich bezahlt. Sei gefälligst dankbar«, dann höre ich das nicht gerne. Als ich in Berlin gelebt habe, mochte ich es nicht, dass ich als jemand gesehen wurde, der etwas zurückzahlen müsse.

Sehen Sie sich als Helden?

Nein. Im Westen sehen mich manche als Helden, der gegen die Kommunisten gekämpft hat. Aber ich bin nur ein Mann, der für Recht und Freiheit einsteht.

Kann Kunst autoritäre Regime stürzen?

Das glaube ich nicht. Zwar haben autoritäre Staaten wie China Angst vor der Kunst, weil sie im direkten Zusammenhang mit der Meinungsfreiheit steht. Aber diese autoritären Staaten lassen sich nicht von der Kunst besiegen. Ihre Systeme sind stärker und mächtiger als die Kunst.

Sie haben Fans auf der ganzen Welt. Genießen Sie es, bewundert zu werden?

Ja.

Warum?

Weil ich sehe, dass ich Licht in das Leben vieler Menschen bringe. Ich erhalte viel Unterstützung von hart arbeitenden Menschen. Das können Lastwagenfahrer, Verkäufer, Köche oder Museumswärter sein. Sie sagen zu mir: »Weiwei, Du drückst etwas aus, was ich nie sagen könnte. Bitte mach weiter so.«

Schmeichelt das Ihrer Eitelkeit?

Es geht nicht um Eitelkeit. Es geht um Verantwortung. Ich habe das Gefühl, dass ich die Hoffnung vieler Menschen erfüllen muss. Vor allem die Hoffnung von Menschen, deren Rechte eingeschränkt sind.

Sind Sie eitel?

Nein. Ich habe gesehen, wie mein Vater, Chinas größter Dichter, jahrelang öffentliche Latrinen putzen musste, nachdem er bei den Kommunisten in Ungnade gefallen war. Wie könnte ich da eitel sein?

Betrachten Sie sich als den größten lebenden Künstler?

Natürlich. Wer könnte besser sein als ich?

Meinen Sie das ironisch?

Natürlich! Ich wollte nie einer der sogenannten großen, wichtigen oder guten Künstler sein; ich wollte immer nur ein aufrichtiger sein, ein von jeglicher Macht unabhängiger und unabhängig denkender Künstler.

Was treibt Sie an, Kunst zu schaffen?

Es geht mir um Ästhetik, Moral und Philosophie. Aber ehrlich gesagt: Ich habe keine große Motivation mehr, Kunst zu schaffen.

Warum?

Weil ich genug gemacht habe. Ich bin der meistausgestellte Künstler der Welt. Aber es gibt so viele Dinge, die ich noch nie gemacht habe. Ich könnte jeden Tag sterben, und dann würde ich es sehr bedauern, wenn ich mein ganzes Leben lang nur Kunst gemacht hätte.

Was wollen Sie stattdessen tun?

Vielleicht pflanze ich Bäume oder baue etwas. Oder ich verbringe mehr Zeit mit meinem Sohn. Oder ich schreibe noch ein Buch. Oder ich drehe weitere Filme.

Werden Sie künftig weniger Kunst schaffen?

Ja, ich denke schon.

Das könnte dazu führen, dass die Preise für Ihre Werke in die Höhe schießen ...

Die Leute sollen warten, bis ich sterbe. Dann werden die Preise richtig in die Höhe schnellen. Allzu lange wird es nicht mehr dauern.

Schon jetzt werden Millionen für Ihre Werke gezahlt. Halten Sie das für angemessen?

Die Preise für meine Kunst sind zu niedrig.

Vor nicht allzu langer Zeit haben Sie noch gesagt, die Preise seien zu hoch!

Betrachtet man den Wert der Kunst, ist der Preis zu niedrig. Betrachtet man die Materialkosten, ist der Preis zu hoch.

Sie sind 2009 im Alter von 52 Jahren Vater geworden. Sind Sie ein guter Vater?

Ich weiß es nicht. Mein Sohn sagt, ich sei ein guter Vater. Aber er sagt auch: »Du bist ständig unterwegs.« Ich erkläre ihm dann, dass ich nicht nur sein Vater sein kann, sondern auch mein eigenes Leben leben muss.

Finden Sie selbst auch, dass Sie ein guter Vater sind?

Nicht gut genug. Ich bin gut darin, auf seine Bedürfnisse einzugehen. Mein Vater ist nie auf meine Bedürfnisse eingegangen. Nie! Er gab mir viel Kunst und Poesie, aber konnte mir nie einen Pfennig geben. Finanziell kann ich meinen Sohn unterstützen, aber ich weiß nicht, ob ich ihm auch wirklich helfen kann.

Wie möchten Sie in Erinnerung bleiben?

Auf meinen Grabstein soll stehen. »Dieser Mann hat gelebt und nichts erreicht.«

Ist das wieder Ironie?

Nein. Wenn wir uns die Welt ansehen, sehen wir so viele Menschen, die immer noch ohne Licht in der Dunkelheit leben. Also haben wir alle zu wenig erreicht.

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