- Kultur
- Wahrer Punk
Ich möchte ein Eis!
The Wirtschaftswunder sind wieder da. Mit »Salmobray« - ein Meisterwerk
Man kann es, man tut es, denn man hat eine eigene Idee. So wurde einmal Punk in Deutschland umgesetzt. Als Prinzip, nicht als Musik. Ende der 70er Jahre war die Punkbewegung die Aussichtsplattform, um zu schauen, wo es spannend sein könnte. Die Platten kamen aus den USA und England, veröffentlicht auf kleinen Labels, die dann auch in der BRD entstanden, um Bands aus dem Untergrund rauszubringen. Als Ausdruck eines grandiosen Es-selber-machen-Wollens. Egal, wie es sich anhört. Nur bitte nicht so wie vorher, wie Schlager, Lindenberg und Krautrock. Präsentiert mit diesem »unglaublichen Gestus der Neuheit«, wie Diedrich Diederichsen einmal gesagt hat.
Neue Bands, neue Labels, neue Kontexte und neues Glück. Viele Künstler oder solche, die es werden wollten, machten mit. Sie richteten sich gegen das Gebot der realistischen Malerei, die damals in West wie Ost die Kunsthochschulen beherrschte. Und auch ein paar Ex-Maoisten waren dabei. Bei denen konnte von Realismus keine Rede sein, wohl aber von einer politischen Unten-gegen-oben-Perspektive. Diese musikalische Bewegung löste sich aus Realismus, Maoismus und Jugendlichkeit - und aus der selbstzufriedenen BRD, dem »Modell Deutschland«, wie es Bundeskanzler Helmut Schmidt vertrat.
Die Musik von Bands wie Hans-A-Plast, Abwärts, Geisterfahrer, Der Plan, Malaria!, Der moderne Man und so weiter war nervös, ironisch und witzig. Vielleicht zwei, höchstens drei Jahre lang. Und dann wurde es mit der Neuen Deutschen Welle wieder blöder, als die Plattenindustrie daraus eine neue Karnevalsmusik geformt hatte. Vorher hatte es noch New Wave geheißen. Deutschrock war das, was davon übrig blieb, stumpf und technokratisch: eine Art SPD-Musik.
Heute wird diese Untergrundmusik von 1979 bis 1982 als die Musik der »Genialen Dilletanten« bezeichnet, benannt nach einem avantgardistischen Westberliner Musikfestival mit dem aus Versehen eingebauten Rechtschreibfehler. Da war viel Getöse und Geschrei und Pathos. Anderen Bands ging es aber auch um Eleganz und Stil und Scherz, um das Erfinden neuer Pophits, weshalb dieser Ausdruck nicht ideal ist.
Rückblickend formuliert der Begriff »Geniale Dilletanten« aber den Kontrast zum Professionalitätsanspruch der Gegenwart. Heutzutage will jeder ein Profi sein, egal wofür. In Freizeit und Arbeit, beim Konsole-Spielen, bei Gym-Besuchen oder beim Betont-flexibel-Arbeiten. Für die Untergrundbands war »professionell« damals ein Schimpfwort, weil man noch wusste, dass dies die Chiffre für Anpassung und Selbstausbeutung ist. Lieber sangen The Wirtschaftswunder zu einem hämmernden Keyboard: »Ich bin ein Analphabet / Was soll das bedeuten? / Ich habe keine Ahnung!«
Und doch hieß ihr erstes Album, das nun nach 40 Jahren wieder veröffentlicht wurde, »Salmobray« - eine Verfremdung von »Solomon’s Prayer«, das Gebet des Salomon aus dem Alten Testament zur Eröffnung des ersten jüdischen Tempels in Jerusalem. Die neue Musik war also so etwas wie der neue Tempel, zur Feier von Frieden und Freude. Aber man sagte es nicht, das wäre uncool gewesen.
The Wirtschaftswunder kamen aus Limburg. Für sehr kurze Zeit war das kleine mittelhessische Städtchen ein Zentrum für aufregende Musik der neuen Szene. Wie sonst nur die großen Städte Düsseldorf, Hamburg, Hannover und Westberlin. Im Oktober 1980 war bei Alfred Hilsbergs ZickZack-Label ein kleines Musikpaket herausgekommen: »Die Limburger Pest«: zwei Singles und eine Flexi Disc in Klarsichthüllen von The Wirtschaftswunder, Die Radierer und Siluetes 61. Das waren drei miteinander verwobene Projekte aus Limburg und Diez, der Nachbarstadt, die gegenüber, am anderen Ufer der Lahn, aber schon in Rheinland-Pfalz liegt. Und um die Ecke liegt auch noch Bad Camberg, da kam Markus Mörl her, der unter seinem Vornamen ein One-Hit-Wonder wurde (»Gib Gas, ich will Spaß«).
Die Limburger Szene, das waren vielleicht 15 Musiker und ihre Freunde, insgesamt 50 Leute. Sie trafen sich in einem Programmkino, das von drei jungen Frauen, die aus Frankfurt am Main exiliert waren, geführt wurde. Dort liefen US-Untergrundfilme von John Waters. Wer Punkmusik hören wollte, musste nach Köln und Bonn auf Konzerte fahren.
The Wirtschaftswunder waren international in der Provinz. Gitarrist Tom Dokoupil war als Kind mit seiner Familie aus der Tschechoslowakei geflüchtet, nach der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968. Keyboarder Mark Pfurtscheller war sechs, als seine Familie aus Toronto nach Diez zog, und Sänger und Posaunist Angelo Galizia kam aus Sizilien nach Limburg, um Geld zu verdienen. Er arbeitete in einer Blechwarenfabrik. Schlagzeuger Jürgen Beuth kam aus Limburg.
Die Bandmitglieder trugen Anzüge und sahen aus wie »eine Mischung aus Madness und SED-Politbüro«, schreibt der Autor und Pophistoriker Jürgen Teipel, der sie damals live sah, zur wiederveröffentlichten Platte. Ihr Auftreten war konzeptionell durchdacht. Das Cover von »Salmobray« hatte der Maler Jiří Dokoupil entworfen, der Bruder von Tom. Ihre Musik war schnell, eckig und tanzbar. Reduziert und elegant - ursprünglich kamen die Musiker vom Jazzrock, sie waren technisch also sehr versiert.
»Es gab noch mehr Bands aus Limburg. Aber wir haben New Wave gemacht und die Punk. Oder eigentlich haben wir auch Punk gemacht, mit anderen Tönen, mit anderen Instrumenten«, hat mir Mark Pfurtscheller einmal erzählt. Das Besondere an der Band war zum einen der Synthesizer, den Pfurtscheller spielte, denn dieses Instrument galt als abstoßend und übertrieben, bevor Depeche Mode und Human League darauf ihre Hits aufbauten. Zum anderen der geniale Gesang von Galizia, der aus einfachen Worten eine durchschlagende Kunstschönheit schaffen konnte, mit dadaistisch-philosophischem Touch, wenn er etwa in dem Song »Schein« sang: »Sonnenschein, ohoho, Krankenschein, Totenschein ohoho, / Jackenschein, guter Schein, Heiligenschein, / heutzutage ist alles nur noch Schein, / am liebsten wäre ich scheintot - huh!«
Das war klug und lustig und an sich ganz simpel, aber mit großer Wirkung. Und live brachte Galizia eine faszinierend exaltierte Präsenz auf die Bühne, die in Westdeutschland sonst nur Gabi Delgado von DAF draufhatte. Doch dessen »Uh!«- und »Ah!«-Stöhner waren letztlich bierernste Anrufungen von Sex und Körperlichkeit, wohingegen Galizia aus dem Wunsch, ein Eis zu essen, ein heiteres, unvergessliches Zauberstück für Funk, Soul, Begehren und Begeisterung entstehen ließ: »Sommer - ich bin wieder da. / Papi - ich möchte ein Eis. / Oh wie lecker. / Vanille, Vanille, Vanille / Erdbeere, Erdbeere, Erdbeere / Malaga, Malaga, Malaga / (…) / Eissalon Napoli, Eissalon Roma, / lecker, lecker, lecker!«
Das war klar die neue Zeit, die mit dem Trivialen gegen das Triviale ankämpfte. So wie man auch gerne sagt: Der beste Punk war kein Punk. Aber eine kreative Störung des Normalen. Das Neue in Konfrontation mit dem Alten haben Wirtschaftswunder geradezu paradigmatisch auf ihrer Single »Der Kommissar« vorgeführt. Es ist das bekannteste Lied der Band, zu finden auf dem Sampler »Preziosen & Profanes«, der »Singles & Raritären 1980-1981« präsentiert und zusammen mit der Wiederveröffentlichung von »Salmobray« erschienen ist.
»Der Kommissar« war einmal eine sehr beliebte ZDF-Krimiserie, in der Erik Ode als Kommissar Keller ermittelte, ein ebenso gewiefter wie altbackener Moralist. Das war der Vorgänger von »Derrick« und lief bis Mitte der 70er Jahre, gefilmt im konservativen Schwarz-Weiß, als sollte mit dem Farbfilm zugleich die moderne Zeit gebannt werden. Wirtschaftswunder improvisieren zur Titelmelodie und präsentieren eine Verhörsituation, in der Erik Ode auf Angelo Galizia trifft. Es geht um den Mord an einem »Hippiemädchen«. Der Originalton von Ode wurde vom Fernseher mit einem Kassettenrekorder mitgeschnitten und Galizias Stimme reingemischt. In dem Lied ist der Sänger nun der Mörder. Fassungslos wiederholt er: »Sie war doch nur ein Hippiemädchen.«
Die Hippiezeit der 70er war 1980 vorbei - und Erik Ode war nur noch Retro. So wie Wirtschaftswunder schon damals »Aktenzeichen XY Ungelöst«, die schlimme Überwachungssendung, verabschiedeten, indem Galizia sang: »Ich verzichte, sorry, sorry, sorry, / es tut mir leid, nein, heute nicht, / kommt gar nicht in Frage.« Wussten Sie, dass es diese Sendung immer noch gibt? Anders als Wirtschaftswunder.
Die Band ging nach »Salmobray« zur Industrie, wollte sich selbst managen und verausgabte sich, indem sie in zu kurzer Zeit zu viel veröffentlichte. »Lieber zu viel als zu wenig« war das legendäre Motto des ZickZack-Labels gewesen, bei Polydor und Ariola ging man damit unter. 1985 war das Pulver verschossen und die Band löste sich auf.
The Wirtschaftswunder: »Salmobray« (Tapete Records), »Preziosen & Profanes. Singles & Raritäten 1980-1981« (Tapete Records)
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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