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Bleistift als Waffe

Tomi Ungerer stellt in Hamburg aus

  • Matthias Reichelt
  • Lesedauer: 4 Min.
Tomi Ungerer: Ohne Titel, Zeichnung für Otto, 1999 Schwarzer Bleistift und lavierte Farbtinte
Tomi Ungerer: Ohne Titel, Zeichnung für Otto, 1999 Schwarzer Bleistift und lavierte Farbtinte

Die Betrachtung der Welt durch Kinderaugen kann erfrischend sein, weil sie noch unverstellt von Ideologie, Religion und moralischen Zwängen ist. Tomi Ungerer, 1931 im Elsass als Jean-Thomas Ungerer geboren und 2019 in Irland gestorben, hat sich Zeit seines Lebens eine kindlich unbefangene Neugier und einen unbestechlichen wie gnadenlosen Blick auf die Welt bewahrt. Ausgestattet mit einem im frühen Kindesalter entwickelten Talent des Zeichnens, Malens, gepaart mit einer Erzählfreude, gelang ihm ein grandioses und umfangreiches Werk, das neben deftiger und satirischer Gesellschaftskritik auch zahlreiche Kinderbücher und animierte Filme sowie Objekte umfasst.

Der Freigeist Ungerer zählte nicht zu den pädagogischen Bedenkenträgern, die Kindern die grausamen Wahrheiten der Welt verschweigen. Als Kind erlebte Ungerer die Okkupation des Elsass durch die Nazis. Eine prägende Erfahrung, die er schon früh in Kinderzeichnungen verarbeitete und die später in ein atemberaubend gutes Kinderbuch einfließen sollte. In »Otto. Autobiografie eines Teddybären« (1999) erzählt Ungerer von Deportation und der Vernichtung der Juden ebenso wie von der rassistischen Politik gegen die schwarze Bevölkerung in den USA.

In Hamburg bietet nun die von seiner Tochter, Aria Ungerer, zusammengestellte Ausstellung in der Sammlung Falckenberg eine gute Gelegenheit, das medial so vielfältige Werk Ungerers neu zu entdecken. Die spärlichen Öffnungszeiten – die Ausstellung ist nur am Wochenende und zu Führungen zu besuchen – stehen leider im krassen Widerspruch zu Umfang, Aufwand und Brisanz.

Der Ausstellungstitel »it›s all about freedom« kann getrost als passendes Aperçu in Hinblick auf die derzeitig umstrittenen Tendenzen wie Cancel Culture, Zensurmaßnahmen und politischer Korrektheit bewertet werden. Tomi Ungerer war immer politisch inkorrekt und hatte deshalb oft mit Vorwürfen zu kämpfen, seine Kunst wäre sexistisch und pornografisch.

Nach seinem Militärdienst in Algerien, Reisen durch Europa entwarf er für französische Firmen Werbeplakate. Aufgrund seiner Freundschaft und Heirat mit der Fulbright-Studentin Nancy White, die er 1956 in Frankreich kennenlernte, konnte er nach New York ziehen, wo sich sein Talent als Grafiker für Zeitschriften und Werbung schnell herumsprach. Nebenher begann Ungerer die Abenteuer von kleinen Schweinen, den »Mellops«, zu erfinden, die im renommierten Verlag »Harper und Row« herauskamen und ihn als Kinderbuchautor berühmt machten. In Europa erschien sein Kinderbuch »Die drei Räuber«, das später auch als Trickfilm animiert wurde. Gemäß seines Erfolges in New York erhielt Ungerer Einblicke in das Leben der New Yorker Bourgeoisie, die ihn 1966 zu seiner Serie »The Party« inspirierte. Mit spitzer Feder in großformatigen Tuschezeichnungen brachte Ungerer seinen Ekel vor einer selbstgefälligen und dekadenten Gesellschaftsschicht zu Papier.

Das brachte ihm in der einflussreichen Oberschicht genauso wenig Freunde ein wie die Plakate mit seiner harschen Kritik an dem imperialistischen Krieg der USA in Vietnam. Auf einem wird einem Vietnamesen die Freiheitsstatue in den Mund gerammt, versehen mit dem Befehl »Eat«. In einer anderen Arbeit mit dem Titel »Kiss for Peace« zwingt ein Militär einen gefesselten Vietcong, der Freiheitsstatue den Arsch zu lecken. Mit der fälschlicherweise als Pornografie bezeichneten Serie »Fornicon« verarbeitete Ungerer die Entfremdung der Geschlechter und die völlig lieblose Mechanisierung der Sexualität. Körper werden durch Maschinen penetriert und sozusagen industriell befriedigt. Das war schließlich zu viel für die bigotte und heuchlerische US-Gesellschaft und Ungerer wurde vom FBI nicht nur beobachtet, sondern auch verhört. 1971 verließ Ungerer mit seiner mittlerweile dritten Ehefrau Yvonne Wright die USA in Richtung Nova Scotia in Kanada. Das einsame Landleben evozierte bei Ungerer eine ganz neue Serie großformatiger Gemälde, in denen die Farmgebäude, von Strommasten durchzogene Landschaft sowie die Tierwelt in realistischer Weise gewürdigt werden. Noch in den 1970er Jahren verlegte Ungerer samt Familie seinen Lebensmittelpunkt nach Irland und lebte fortan sowohl dort wie im Elsass.

In der Ausstellung sind auch skulpturale Objekte zu bewundern, die seine Liebe zu gefundenem Plastiktrash ebenso demonstrieren wie seine enorm produktive Fantasie. Zu sehen sind auch Interviewfilme, in denen Ungerer äußerst charmant über sich und seine Kunst erzählt. Darin werden sein kompromissloser Humanismus ebenso wie seine tiefe Verbundenheit zur Natur deutlich spürbar, die er einer deprimierend kriegerischen Welt kämpferisch entgegenhält: »Mein Bleistift, meine Feder sind Waffen zum Angriff oder zur Verteidigung.«

Zu sehen bis 24. April 2022

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