Karlsruher Handlungsauftrag

Das Verfassungsgericht verpflichtet den Gesetzgeber zur Regelung der Triage

»Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.« So heißt es in Artikel 3 Absatz 3 Satz 2 des Grundgesetzes. Doch genau so eine Benachteiligung befürchteten Menschen mit Behinderung für den Fall, dass Ärzt*innen in der Pandemie aufgrund der Vielzahl an Covid-Patient*innen darüber entscheiden müssen, wer einen der begrenzten intensivmedizischen Behandlungsplätze erhält und wer nicht. Neun Betroffene, die aufgrund von Behinderungen und Vorerkrankungen fürchten, bei einer solchen möglichen Triage ins Hintertreffen zu geraten, klagten deshalb vor dem Bundesverfassungsgericht.

Wie die Karlsruher Richter*innen in einem am Dienstag veröffentlichten Beschluss urteilen: zu Recht. Denn nach Auffassung der Verfassungsrichter*innen hat der Gesetzgeber den eingangs zitierten Grundgesetzartikel verletzt, »weil er es unterlassen hat, Vorkehrungen zu treffen, damit niemand wegen einer Behinderung bei der Zuteilung überlebenswichtiger, nicht für alle zur Verfügung stehenden intensivmedizinischer Behandlungsressourcen benachteiligt wird«, heißt es vonseiten des obersten deutschen Gerichts. Auf Geheiß Karlsruhes muss der Gesetzgeber, sprich der Bundestag, nun schnellstens Abhilfe und Vorkehrungen zum Schutz von Menschen mit Behinderungen im Fall einer Triage schaffen.

Denn laut den Richter*innen liegen nach jetzigem Stand tatsächlich »Anhaltspunkte dafür vor, dass für die Beschwerdeführenden ein Risiko besteht, bei Entscheidungen über die Verteilung pandemiebedingt nicht ausreichender überlebenswichtiger Ressourcen in der Intensivmedizin und damit bei einer Entscheidung über Leben und Tod aufgrund ihrer Behinderung benachteiligt zu werden.« Aus der Bewertung der sachkundigen Einschätzungen und Stellungnahmen wie auch aus den fachlichen Handlungsempfehlungen ergebe sich, »dass die Betroffenen vor erkennbaren Risiken für höchstrangige Rechtsgüter in einer Situation, in der sie sich selbst nicht schützen können, derzeit nicht wirksam geschützt sind.« Bei der »konkreten Ausgestaltung« des Schutzes von Menschen mit Behinderung gesteht Karlsruhe dem Gesetzgeber einen »Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum« zu.

Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Schutz von Menschen mit Behinderung stieß in Politik, Verbänden und Organisationen fast einhellig auf Zustimmung. So begrüßten etwa der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Georg Bätzing, die Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Annette Kurschus, Caritas, Diakonie, VdK, Lebenshilfe, Weltärztebund und auch Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) das Urteil.

Für die Lebenshilfe erklärte deren Bundesvorsitzende und ehemalige Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt: »Bereits vor einem Jahr war unsere Forderung, dass eine solche gesetzliche Regelung nötig ist. Das Bundesverfassungsgericht hat zutreffend darauf hingewiesen, dass die Gefahr besteht, dass Menschen mit Behinderung benachteiligt werden, da von der Behinderung pauschal auf eine geringere Überlebenschance geschlossen werde.« Diakonie-Präsident Ulrich Lilie zeigte sich ebenfalls zufrieden mit der Entscheidung: »Unser christliches Menschenbild sagt mehr als deutlich, dass menschliches Leben ohne jeden Unterschied geschützt werden muss.« Deshalb sei die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts so wichtig und der Gesetzgeber müsse nun schnell handeln. Gleichzeitig verwies Lilie - ebenso wie Lauterbach - auf die vordringlichste Aufgabe: »Als erstes müssen wir allerdings alles dafür tun, dass wir die Verletzlichsten in unserer Gesellschaft schützen und Überlastungssituationen vermeiden«, so Lilie.

Für die Ampel-Koalition kündigte Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) eine rasche Reaktion auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts an: »Das erste Ziel muss sein, dass es erst gar nicht zu einer Triage kommt. Wenn aber doch, dann bedarf es klarer Regeln, die Menschen mit Handicaps Schutz vor Diskriminierung bieten«, schrieb er am Dienstag auf Twitter. Die Bundesregierung werde dazu zügig einen Gesetzentwurf vorlegen.

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