- Kultur
- Klassik
Karnevalismus und Höllenpolyphonie
Dieses Jahr starben die Komponisten Siegfried Matthus und Udo Zimmermann. Was bleibt von der E-Musik der DDR?
Siegfried Matthus starb am 27. August, Udo Zimmermann am 22. Oktober. Einst haben diese Komponisten das Musikleben geprägt. Die Uraufführungen ihrer Werke waren beachtete Ereignisse und trugen den Ruf der DDR als ein erstklassisches europäisches Musikzentrum in alle Welt. Heute, scheint es, sind sie fast vergessen. Das Feuilleton zwar gedachte ihrer in den üblichen Nachrufen, aber sonst vernahm man wenig, in den Konzertsälen gar nichts.
Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann
Man versteht - um es vorauszuschicken - die neue Musik in der DDR nicht, wenn man sie als bloßes Derivat der Kulturpolitik betrachtet. Die Kunst nahm, wie immer, ihren Ausgang von den Künstlern und nicht von den Politikern, wie lautstark sie auch reden. Die Keimzelle der musikalischen Erneuerung war die Akademie der Künste in Berlin, in der in den 50er Jahren drei Kompositionslehrer wirkten, die die neue Gegenration ausbildeten: Hanns Eisler, Rudolf Wagner-Régeny, Paul Dessau.
Sie waren alle drei mit der Moderne verbunden; Eisler war Schüler von Arnold Schönberg, Dessau mit Schönberg eng befreundet seit beider Exiljahre in Los Angeles. Wagner-Régeny arbeitete mit Caspar Neher zusammen, dem genialen Bühnenbildner Bertolt Brechts, und schuf mit ihm mehrere erfolgreiche Opern. Unter der Obhut dieser Lehrer wuchs im Berlin der 60er Jahre eine Riege junger Komponisten heran, die früh Aufsehen erregte, weil sie den Dogmatismus der sowjetischen Kulturpolitik ablehnte und sich an der sogenannten »Darmstädter Schule« orientierte, deren Meister Pierre Boulez, Luigi Nono und Karlheinz Stockhausen waren. Sie begannen in der Darmstädter serialistischen Technik zu schreiben (eine Weiterentwicklung von Schönbergs Zwölftontechnik), was nicht nur einen musikalischen, sondern auch politischen Affront darstellte.
Darmstadt war mehr als eine Lehranstalt. Die berühmten »Ferienkurse« waren auch eine Schule der Demokratie. Ein antibürgerlicher und antifaschistischer Geist beherrschte sie, und dass die Akademien von West und Ost damals nicht zusammenkamen, war ein dem Kalten Krieg geschuldetes Unglück. Boulez’ »Le marteau sans maître«, Nonos »Epitaffio per Federico Garcia Lorca« und Stockhausens »Gesang der Jünglinge im Feuerofen« (Auschwitz), Eislers »Deutsche Sinfonie« und Dessaus »Deutsches Miserere« (beides nach Brecht) entsprangen ähnlichen Impulsen.
Aus dieser Schule kamen die jungen Komponisten in der DDR. Nicht aus der klassisch-romantischen Tradition, die die Kulturpolitiker als die angeblich einzige dem Sozialismus gemäße präferierten. Der junge Musikwissenschaftler Frank Schneider schuf damals mit seiner Monografie »Momentaufnahme. Notate zu Musik und Musikern in der DDR« das theoretische Fundament der neuen Richtung. Sie erschien bei Reclam Leipzig, nicht in einem der renommierten Musikverlage, und erregte ungewöhnliches Aufsehen in der Fachwelt.
Heute kann man sich davon kaum noch ein Bild machen, was es bedeutete, die abstrakten ästhetischen Normen der »Parteilichkeit« und »Volkstümlichkeit« durch eine lebendige und differenzierte Darstellung der tatsächlichen Kunstprozesse zu ersetzen. Schneider schrieb Kurzporträts von mehr als einem Dutzend Komponisten und hob sieben Namen besonders hervor: Reiner Bredemeyer, Paul-Heinz Dittrich, Friedrich Goldmann, Georg Katzer, Siegfried Matthus, Friedrich Schenker und Udo Zimmermann, allesamt Meisterschüler der Akademie. Heute ist keiner mehr von ihnen am Leben. Sie erregten Aufsehen, weil ihre Arbeiten mit dem allgemeinen Geschmack kollidierten.
Wenn man heute auf jene künstlerisch ungemein produktiven Jahre zurückblickt, dann stößt man auf den Widerspruch zwischen Thematik und Klangsprache. Diese Komponisten verwarfen einerseits den Primat der »absoluten Musik« und wählten andererseits aktuelle politische Themen, die als Domäne des konservativen »sozialistischen Realismus« galten.
Aber sie setzten verstörende Akzente, die sich nicht in den kulturpolitischen Erwartungshorizont einfügten. Friedrich Goldmann ließ seine frühe Oper »R. Hot oder Die Hitze« (nach Jakob Michael Reinhold Lenz) mit den Worten »Behaltet euren Himmel für euch« ausklingen, ironischerweise der einzigen traditionellen Passage der dodekaphonischen Komposition. Georg Katzer schuf ein satirisches Märchenspiel mit dem hintergründigen, aber nicht misszuverstehenden Titel »Das Land Bum-Bum« (Libretto Rainer Kirsch), Udo Zimmermann anspielungsreiche Märchenoper »Der Schuhu und die fliegende Prinzessin« (nach Peter Hacks) verhöhnte den ost-westlichen Epochenkonflikt als Schnecken- und Spinatkrieg. Am radikalsten zeigte sich Friedrich Schenker mit seiner »Missa nigra«, einem Instrumentaltheaterstück gegen die atomare Hochrüstung und die Neutronenbombe. Die Instrumentalisten der Leipziger Gruppe neue musik »Hanns Eisler« agierten in Leichenhemden (Ausstattung Hartwig Ebersbach) als die Toten eines künftigen Weltkriegs.
Reiner Bredemeyer vertonte Sprüche von Politikern aus Ost und West, um deren Widersinn bloßzustellen, darunter Helmut Kohls Vergleich von Gorbatschow mit Goebbels und Honeckers »Sputnik«-Verbot. In seinem Liederzyklus »Die Winterreise« (nach Wilhelm Müller) entwarf er ein in Eis erstarrtes Deutschlandbild, das wesentlich krasser und anklagender war als Franz Schuberts romantische Behandlung der gleichen Dichtung.
Das waren keine Maskierungen, um die Zensur zu täuschen und ihr zu entgehen. Darum ging es gar nicht. Die Masken waren Charakterbilder der unversöhnten Nachkriegsgesellschaften in Deutschland. Der Karnevalismus bestand nicht in der Parteinahme für das eine oder andere System, sondern in der Verlachung beider. So machte man sich unbeliebt. Dieser Karnevalismus brachte seine eigene Musik hervor, für die der Musikjournalist Stefan Amzoll den treffenden Ausdruck »Höllenpolyphonie« erfand. Sie bildete das musikalische Pendant zu Brechts nichtaristotelischem »epischen Theater« und seiner Methode der Verfremdung. Es war eine musica negativa, obwohl sie auch Lyrismen von großer Zartheit kannte, und zeichnete sich aus durch die Abwesenheit von Triumphmärschen, Jubelchören oder Bravour-Arien wie von innigen Gebeten, sentimentalen Barkarolen oder selbstvergessenen Liebesduetten. Das »Selbst« allerdings wurde nie vergessen, nur zeigte die Bühne keine ihrer selbstgewissen Helden mehr, sondern Menschen auf Irrwegen.
Es war eine neue Art Musiktheater, das nicht Einfühlung erforderte, sondern einen mitdenkenden Zuschauer. Udo Zimmermanns »Levins Mühle« oder Rainer Kunads »Litauische Claviere« nach Johannes Bobrowski, Matthus’ »Judith« (nach Hebbel), Schenkers »Missa nigra«, Bredemeyers »Galoschenoper« (Heinz Kahlau), Katzers »Gastmahl« nach Plato und anderes waren große Theaterereignisse des verschwundenen Musiklandes, überstrahlt von den Alterswerken Paul Dessaus - »Lanzelot« (Heiner Müller), »Einstein« (Karl Mickel) und »Leonce und Lena« (Thomas Körner). Die avantgardistische Musiksprache, die »Höllenpolyphonie«, Anfang der 50er Jahre als »Formalismus« verketzert, wurde das Markenzeichen dieses neuen Theaters, das auf die epochalen Erscheinungen des Brecht- und Felsenstein-Theaters folgte. Auf dem Boden der DDR entstanden, folgte es gleichwohl ihrem kulturpolitischen Dirigismus nicht und wurde zu einem Sprachrohr der Kritik. Ihre Komponisten fühlten sich eher dem »Neuen Denken« Gorbatschows verpflichtet als Kurt Hagers Dogmatismus.
In drei Werken kulminierte diese neue Theaterkultur, ehe sie, in den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts abrupt abbrach: in den satirischen Opern »Candide« (nach Voltaire) von Reiner Bredemeyer und »Graf Mirabeau« von Siegfried Matthus und dem Oratorium »Traum... Hoffnung... Ein deutsches Requiem, gewidmet Karl und Rosa« (Text: Jakob van Hoddis, Johannes R. Becher, Georg Heym, Rudolf Leonhard, Johannes Bobrowski, Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg) für Soli, Sprecher und Orchester.
Nach 1989 engagierten sich Siegfried Matthus und Udo Zimmermann für die Fortsetzung und Erneuerung der vorherigen Theater-Experimente. Matthus, der schon seit 1972 als ihr rühriger Sekretär die Sektion Musik der Akademie der Künste geleitet hatte, begründete 1990 die Kammeroper Rheinsberg und schuf damit in Brandenburg ein erfolgreiches Kammeropernfestival nach dem Vorbild des Aldeburgh Festivals von Benjamin Britten.
Udo Zimmermann, der seine Laufbahn als Dramaturg an der Dresdner Semperoper begonnen hatte, gründete 1974 ein Studio für Neue Musik, aus dem später ein wissenschaftlich- künstlerisches »Zentrum für zeitgenössische Musik« hervorging. Dessen »Dresdner Tage für zeitgenössische Musik« errangen ebenso wie das Rheinsberger Kammeropernfestival schnell internationalen Ruf. Von 1990 bis 2001 war er Intendant der Oper Leipzig und initiierte aufsehenerregende Aufführungen von Bühnenwerken von Karlheinz Stockhausen (darunter die Uraufführungen seiner mythologischen Szenenspiele »Dienstag« und »Freitag«). Von 2001 bis 2003 war er Generalintendant der Deutschen Oper Berlin, danach Gründungsintendant des Europäischen Zentrums der Künste Dresden-Hellerau.
Beide Institute wirken bis heute im Geiste ihrer Schöpfer. Was aber bleibt von ihnen, von ihren großen Partituren? Die Asche des Vergehens und Vergessens hat sich über sie gesenkt. Sie ruhen, soweit sie nicht ausgesondert und vernichtet wurden, in den Schränken und Schubladen der Archive und harren ihrer Auferstehung. Doch manchmal, viel zu selten und nur, wenn sich ein Musiker ihrer entsinnt, kommt der alte Geist des Karnevals, des Gelächters und des Spotts wieder ans Licht und zeigt, dass er noch glüht und nicht begraben ist.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.