Mit wehenden Fahnen

Keine Überraschung: Auch das Menschenrechtszentrum von Memorial wird aufgelöst

  • Daniel Säwert, Moskau
  • Lesedauer: 3 Min.

Das sei doch alles kein Zufall, empörte sich Ilja Nowikow bei der zweiten Verhandlung gegen Memorial binnen zwei Tagen. Schließlich seien die Klagen gegen den Dachverband und das Menschenrechtszentrum der ältesten russischen Menschenrechtsorganisation am selben Tag eingegangen. Das zeige, dass auch das Menschenrechtszentrum aus politischen Gründen verboten werden solle. Große Hoffnung, dass das Moskauer Stadtgericht anders entscheiden würde als der Oberste Gerichtshof am Tag zuvor, hatte Nowikow daher nicht. »Ich glaube nicht an den Erfolg des Prozesses«, so der Anwalt zum Richter. Viel wichtiger sei die Frage, ob das Schiff mit wehender Fahne untergehe oder sich seinem Schicksal ergebe. Und »Memorial geht mit wehender Flagge unter, sie wird nicht eingeholt«, so Nowikow bei der Verhandlung.

Die Klage, über die am Mittwoch verhandelt wurde, ähnelt der, die erst am Vortag zum Verbot des Memorial-Dachverbandes geführt hatte. Staatsanwalt Dmitrij Suchorukow warf auch dem Menschenrechtszentrum vor, aus dem Ausland finanziert zu werden und dies verschleiert zu haben. In Veröffentlichungen sei nur äußerst lückenhaft auf die Einstufung des Zentrum als sogenannter ausländischer Agent hingewiesen worden. Dies könne bei Lesern Depressionen auslösen.

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Im Prozess spielten die unzureichenden Kennzeichnungen allerdings nur eine geringe Rolle. Stattdessen holte der Staatsanwalt weit aus und bezichtigte die Menschenrechtler der Verletzung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Uno, des Angriffs auf die Informationsfreiheit und des Rechts von Kindern auf geistige Entwicklung. Memorial unterstütze Proteste und destabilisiere die Situation in Russland, hieß es in der Anklage weiter.

Und nicht nur das. Angeblich unterstützt das Menschenrechtszentrum mit seiner bekannten Liste politischer Gefangener auch Terrorismus und Extremismus. Der Großteil der dort aufgelisteten 435 Menschen sind Häftlinge, die aus religiösen Gründen einsitzen. Etwa weil sie Mitglied der verbotenen islamistischen Hizb ut-Tahrir oder der Zeugen Jehovas sind. Mit dieser Liste wolle Memorial ein schlechtes Bild der russischen Justiz zeichnen und die Menschen desinformieren, so die Staatsanwaltschaft, die sich auf ein Gutachten stützte, dessen Autoren unter anderem auf Zitate aus Schülerreferaten zurückgriffen. Einwände dagegen wies die Anklage als versuchte Diskreditierung zurück.

Für Anwalt Grigorij Wajpan standen im Prozess ideologische Fragen im Vordergrund - und nicht tatsächliche Vergehen Memorials. So werfe das Gericht dem Menschenrechtszentrum eine Diffamierung Russlands vor. Diffamieren könne man aber nur eine bestimmte Person und nicht einen Staat, denn der habe weder Ehre noch Würde, so Wajpan in seinem Plädoyer.

Für die Urteilsfindung brauchte Richter Michail Kasakow nur gut eine halbe Stunde, dann erklärte er wie erwartet die Auflösung des Menschenrechtszentrums.

Direkt nach der Verkündung quittierten die etwa 70 Unterstützer, die in Eiseskälte vor dem Gericht ausgeharrt hatten, das Urteil mit »Schande«-Rufen. Einige regierungstreue Medien störte das nicht. Sie verbreiteten, dass niemand gekommen sei, um für Memorial Flagge zu zeigen.

Weltweit hatten sich bereits nach dem Urteil vom Dienstag Politiker und Experten mit Memorial solidarisiert. Mehrere deutsche Osteuropa-Initiativen sprachen in einer gemeinsamen Erklärung von einem Schlag gegen die russische Gesellschaft und zeigten sich erschüttert über das Vorgehen des russischen Staates. Selbst die staatstreue Kommunistische Partei Russlands (KPRF) stellte sich hinter Memorial. Das Verbot sei »nicht notwendig«, heißt es in einer Erklärung.

Bei Memorial gibt man sich kämpferisch. Man werde das Urteil anfechten und setze auf die mehr als 50 regionalen Ableger, die offiziell als eigenständige Organisationen registriert sind. »Wir haben lediglich die Rechtsperson und die Bankkonten verloren. Die Menschen bleiben und arbeiten weiter«, erklärte der Leiter des Krasnojarsker Memorial-Ablegers Alexei Babij. Auch seine Kollegen in Perm und der Republik Komi wollen sich nicht unterkriegen lassen.

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