Pflege-Fortschritt à la Ampel

Hunderttausende Frauen aus Osteuropa betreuen alte Menschen zu Hause, oft unter illegalen Bedingungen. Die Ampel-Parteien planen nun eine »rechtssichere« Regelung. Die kann ganz unterschiedlich aussehen

  • Eva Roth
  • Lesedauer: 7 Min.

Es ist verboten, von einer Angestellten zu verlangen, eine pflegebedürftige Person rund um die Uhr zu betreuen und zur Verfügung zu stehen, wann immer sie gebraucht wird. Dennoch werben Agenturen hierzulande mit einer »24-Stunden-Betreuung« für alte Menschen, die zu Hause leben. Tatsächlich arbeiten die meisten der Betreuungskräfte aus Osteuropa »unter Bedingungen, die nach deutschem Arbeitsrecht illegal sind«, sagt die Altenhilfe-Expertin der Diakonie, Heike Prestin. Die Ampel-Parteien SPD, Grüne und FDP haben nun in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart, die »24-Stunden-Betreuung« neu zu regeln und rechtssicher zu machen. Zumindest ein Vorhaben geht aus Sicht der Gewerkschaft Verdi dabei in die richtige Richtung. Ein Grundproblem in der ambulanten Altenpflege bleibt jedoch bestehen.

Das Gerichtsurteil: Mindestlohn muss sein

Spaß und Verantwortung

Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann

Das Bundesarbeitsgericht hat im Juni eine Entscheidung getroffen, die die Gewerkschaft als einen großen Erfolg bezeichnet. Demnach haben nach Deutschland entsandte ausländische Betreuungskräfte einen Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn für geleistete Arbeitsstunden (Aktenzeichen 5 AZR 505/20). »Dazu gehört auch Bereitschaftsdienst«, heißt es in der Mitteilung des Gerichts. »Mit dem Urteil haben die Richter den Wert der Arbeit sichtbar gemacht, den die Frauen aus Osteuropa leisten, die sich um alte Menschen zu Hause kümmern«, sagt der Verdi-Gesundheits- und Pflegeexperte Dietmar Erdmeier.

Mehr Geld dürften die meisten Betreuerinnen allerdings auch ein halbes Jahr nach der Entscheidung nicht bekommen. Sie habe keine Hinweise, dass sich die Arbeitsbedingungen seit der BAG-Entscheidung verbessert hätten, sagt Justyna Oblacewicz, Branchenkoordinatorin für häusliche Betreuung bei Faire Mobilität, dem bundesweiten Beratungsnetzwerk für Arbeitsmigrant*innen aus Osteuropa. Die Frauen erhielten weniger als den Mindestlohn, die tatsächliche Arbeitszeit inklusive Bereitschaft gehe je nach Familie mehr oder weniger in Richtung 24 Stunden am Tag.

Warum viele trotzdem weniger Geld erhalten

Dass sich nichts geändert hat, liegt zum Beispiel daran, dass polnische Betreuungskräfte formal freie Mitarbeiterinnen sind und demnach keinen Anspruch auf den Mindestlohn haben, erklärt Oblacewicz. Faire Mobilität ist überzeugt, dass es sich um Schein-Selbstständige handelt, aber das müssten die Beschäftigten im Einzelfall vor Gericht nachweisen. Doch die Frauen seien meist nicht klagewillig, weil sie fürchten, die Anstellung zu verlieren und keine neue zu bekommen.

Was die BAG-Entscheidung vorangetrieben hat, ist die politische Debatte, wie die Betreuung von alten Menschen zu Hause künftig geregelt werden soll. Im Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP heißt es dazu: »Wir gestalten eine rechtssichere Grundlage für die 24-Stunden-Betreuung im familiären Bereich.« Rechtssicherheit kann allerdings auf ganz unterschiedlichen Wegen erreicht werden. So fordert der Bundesverband für häusliche Betreuung und Pflege (VHBP) eine »Lösung wie in Österreich«. Dies würde eine »bezahlbare Rechtssicherheit« ermöglichen, so der Verband, der Agenturen vertritt, die Betreuungskräfte aus Osteuropa an Haushalte vermitteln.

Modell Österreich?

In Österreich sind die meisten Betreuerinnen aus Osteuropa Selbstständige und - wie alle anderen Selbstständigen - sozialversichert. Gleichzeitig gelten für sie »keine gesetzliche Obergrenze bei der Arbeitszeit« und auch keine Mindest-Stundenvergütungen, erläutert Kurt Schalek von der Arbeitskammer Wien »nd.Die Woche«. Der Tagessatz der Betreuerinnen liege im Durchschnitt bei rund 65 Euro brutto. Davon müssen sie dann noch die Sozialbeiträge zahlen. Die Frauen arbeiten meist zwei bis vier Wochen in einem Haushalt und haben anschließend ebenso lange frei. Geld gibt es nur für die Arbeitstage, Selbstständige haben keinen bezahlten Urlaub.

Wenn dieses Modell übernommen würde, könnten deutsche Agenturen Frauen aus allen EU-Ländern als freie Mitarbeiterinnen vermitteln. Gleichzeitig blieben die Vergütungen für die Live-in-Betreuungskräfte niedrig und die Arbeitszeiten unreguliert.

Genau deswegen lehnen Diakonie, Caritas und Gewerkschaften dieses Modell ab. »Dadurch würden ausbeuterische Arbeitsverhältnisse legalisiert«, sagt die Diakonie-Expertin Prestin. Justyna Oblacewicz von Faire Mobilität sieht sogar die Gefahr, dass die Frauen hierzulande noch weniger verdienen würden als jetzt. Das Netzwerk fordert stattdessen, dass die Politik die Betreuungskräfte nicht als Selbstständige definiert, sondern als Angestellte anerkennt. »Wir haben Mindeststandards bei den Arbeitszeiten und Löhnen. Die gelten für alle abhängig Beschäftigten und müssen auch für die Betreuungskräfte gelten. Das würde etwa bedeuten, dass die Frauen in der Regel bis zu 40 Stunden pro Woche arbeiten, mehr nicht«, sagt Oblacewicz. Die Gewerkschaft Verdi sowie die Diakonie-Expertin Prestin und die Caritas sehen dies ebenso.

Ampelkoalition plant Bonus bei Haushaltshilfen

Im Koalitionsvertrag findet sich im Kapitel zur Pflege nichts zu der Frage, ob die Ampel-Parteien das Selbstständigen- oder das Angestelltenmodell bevorzugen. Stattdessen steht im Kapitel zum Arbeitsmarkt, dass künftig haushaltsnahe Dienstleistungen gefördert und dadurch auch mehr sozialversicherte Arbeitsplätze geschaffen werden sollen. Konkret ist vorgesehen, dass Personen mit Kindern oder mit pflegebedürftigen Angehörigen künftig für haushaltsnahe Dienstleistungen Zulagen erhalten. Der Bonus solle bis zu 2000 Euro pro Jahr betragen, sagte der alte und neue Arbeitsminister Hubertus Heil.

Davon profitierten auch die »Alltagshelfer«, da sie sozialversichert seien und den Mindestlohn erhielten. Der Koalitionsvertrag schließt allerdings nicht explizit aus, dass es diese Zuschüsse auch dann gibt, wenn die Alltagshelferinnen selbstständig sind. Der Verdi-Fachmann Erdmeier geht jedoch davon aus, dass der Bonus nur dann gezahlt wird, wenn die Person angestellt ist und alle Arbeitnehmerrechte hat, inklusive im Schnitt maximal acht Arbeitsstunden am Tag, wie es das Arbeitszeitgesetz vorsieht.

Darum ist für Erdmeier das Vorhaben ein »erster Schritt in die richtige Richtung«. Die Ampel-Parteien hätten damit einen Vorschlag von DGB und Verdi aufgegriffen. Durch die Zuschüsse werde es Familien eher ermöglicht, eine Frau aus Osteuropa zu anständigen Bedingungen zu engagieren.

Der Haken

Das Problem sei, dass Agenturen weiterhin formal freie Betreuerinnen vermitteln können, die mehr oder weniger rund um die Uhr zur Verfügung stehen sollen. Etliche Familien dürften auch weiterhin diese Arbeitskräfte anfordern.

Denn »das Grundproblem in der Altenpflege ist nicht gelöst: Die gesetzliche Pflegeversicherung übernimmt nur einen Teil der Pflegekosten«, sagt Heike Prestin von der Diakonie. »Deshalb gibt es keine ausreichende ambulante pflegerische Betreuung. Diese Lücke füllen Angehörige oder Arbeitskräfte aus Osteuropa, die nicht nur einkaufen und kochen, sondern oft auch pflegerische Aufgaben übernehmen, die pflegebedürftigen Menschen waschen oder ständig aufpassen, dass eine demente Person sich nicht verletzt oder nachts loszieht. Das ist häufig eine wahnsinnige Überforderung der Menschen.«

»Das muss anders laufen«, sagt Prestin: Die ambulante Pflege müsse ausgebaut werden. Es brauche mehr betreutes Wohnen, mehr Einrichtungen, in die alte Menschen tagsüber oder nachts gehen können. Sämtliche Pflegekosten müssten dabei voll von der gesetzlichen Versicherung übernommen werden. Doch hier bleiben die Ampel-Parteien vage und halbherzig. Laut Koalitionsvertrag wollen sie lediglich prüfen, die gesetzliche Pflegeversicherung »um eine freiwillige, paritätisch finanzierte Vollversicherung zu ergänzen«, die alle Pflegekosten absichert. Eine Expertenkommission soll bis 2023 Vorschläge vorlegen. Das Ganze wird also dauern. Unklar ist auch, ob »freiwillig« bedeutet, dass Unternehmen entscheiden können, ob sie die Zusatzversicherung anbieten. Es könne auch nicht angehen, so Erdmeier, dass für pflegebedürftige Rentnerinnen und Rentner alles beim Alten bleiben soll.

Verdi fordert Vollversicherung, um Ausbeutung zurückzudrängen

Ein entscheidendes Problem bleibe vorerst bestehen, bilanziert denn auch Prestin. Zwar sei eine der zentralen Forderungen der Diakonie aufgenommen worden: Die Eigenanteile der pflegebedürftigen Menschen in stationären Einrichtungen sollen begrenzt werden. »Insbesondere in der ambulanten Pflege wird es aber weiter nur eine Teilleistungs-Versicherung geben.« Ein zu großer Anteil der Pflege müsse darum privat organisiert und von Angehörigen oder Betreuungskräften aus Osteuropa übernommen werden. »Hier muss die neue Regierung deutlich nachbessern.«

Auch Erdmeier fordert eine Vollversicherung, die sämtliche Pflegekosten abdeckt, für alle. »Nur so kann es gelingen, dass es künftig ausreichend ambulante Pflegeangebote gibt und ausbeuterische Arbeitsverhältnisse zurückgedrängt werden.«

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