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Nicht eine, sondern viele Krisen
Müde und wütend fragen sich viele Menschen, warum die Pandemie kein Ende nimmt. Das liegt auch daran, dass Corona auf eine bereits krisengeplagte Gesellschaft traf - vor allem im Gesundheitssystem, in der Politik und im sozialen Miteinander
Die Hoffnung ist dahin. Im letzten Winter spekulierte man noch optimistisch, man könne die Pandemie und all die Strapazen hinter sich lassen, wenn erst die rettende Impfung auf dem Markt sei. Jetzt stellt sich heraus: Die erhoffte Entspannung tritt nicht ein. Im Gegenteil, die Situation scheint sich noch zu verschärfen. Woran liegt das? Warum kommen wir so schlecht durch diese Krise?
Anders als die öffentlichen Debatten nahelegen, lässt sich diese Frage nicht allein anhand von Impfquoten, Inzidenzen und Hospitalisierungsraten beantworten. Die jetzige Situation ist nicht das Ergebnis eines singulären Ereignisses, das wie eine Naturkatastrophe über uns hereingebrochen wäre. Vielmehr traf das Virus im Frühjahr 2020 auf eine bereits zutiefst krisenhafte Gesellschaft, die denkbar schlecht auf die Bewältigung dieser Pandemie vorbereitet war. Das Virus hat drei gesellschaftliche Krisenfelder verschärft, in denen seit Jahren ungelöste Konflikte gären: erstens die Krise des Gesundheitswesens, zweitens die Krise des Politischen und drittens die Krise des sozialen Miteinanders. Wenn es uns nicht gelingt, diese systemischen Krisen zu bearbeiten, werden wir die gesellschaftlichen Verwerfungen, die sich am postpandemischen Horizont bereits abzeichnen, verstetigen und wir werden auch unfähig sein, andere Krisen - sei es eine erneute Pandemie, eine Wirtschaftskrise oder die Klimakrise - erfolgreich zu bewältigen.
Permanenter Pflegenotstand
Beginnen wir mit der Krise des Gesundheitssystems. Langsam mehren sich zwar die Berichte über den strukturellen Pflegenotstand und den dringenden Reformbedarf. Diese Berichte kommen allerdings erschreckend spät und sie bestimmen nach wie vor nicht die Debatte über die Bewältigung der Pandemie. Dabei war der drohende Kollaps längst absehbar. Seit Jahren arbeitet das Pflegepersonal am Rande der Erschöpfung. Die Profitorientierung und Kommerzialisierung des Gesundheitswesens erzeugen einen gnadenlosen Druck, Zeit und Geld einzusparen. Die Kranken müssen im Akkord weggepflegt werden, oft herrschen Bedingungen, die das Patientenwohl gefährden. Viele Pflegende halten die miserablen Arbeitsbedingungen irgendwann nicht mehr aus, sie flüchten aus ihrem Beruf. Das hat fatale Folgen. Bereits im März 2019 - ein Jahr vor der Pandemie - warnten Intensivmediziner, dass die Versorgung der Bevölkerung in Gefahr sei. Schon damals waren in vielen Krankenhäusern Intensivbetten gesperrt, weil es zu wenig Pflegekräfte gab. In Spitzenzeiten wie der Grippewelle 2017/2018 kam es zu Einschränkungen in der Notfallversorgung, auch der Normalbetrieb auf den Intensivstationen musste beschnitten werden.
Der Pflegenotstand ist das Ergebnis jahrelanger Politik. Eine Studie kam 2018 zu dem Ergebnis, dass 120 000 bis 200 000 Pflegekräfte in den Beruf zurückkehren würden, wenn sich die Arbeitsbedingungen verbesserten. Derzeit fehlen in Deutschland 200 000 Pflegekräfte. Doch nicht einmal im Angesicht einer Pandemie bemühten sich die politisch Verantwortlichen ernsthaft darum, diese Menschen zurück in den Beruf zu holen und strukturelle Verbesserungen anzugehen. Auch die Anerkennung der Abschlüsse von ausländischen Pflegekräften - die bereits hier im Land, aber unterhalb ihrer Qualifikation arbeiten - wurde unterlassen.
Gleiches gilt für einen »Profitdeckel« für Gesundheitskonzerne, der diese zur Reinvestition ihrer Gewinne gezwungen hätte - mit zweistelligen Renditen ist dies immerhin einer der profitabelsten Wirtschaftsbereiche, auch in Pandemiezeiten. Stattdessen wurden selbst die Schließungen von Krankenhäusern weiter mit umfangreichen Mitteln aus dem Krankenhausstrukturfonds vergütet. Hunderte Millionen Euro, die für die Anschaffung von Intensivbetten an die Klinikkonzerne überwiesen wurden, schlagen sich nicht in höheren Kapazitäten nieder, wie der Bundesrechnungshof bemängelt, während die Ausschüttungen für die Aktionäre beispielsweise beim Helios-Klinikkonzern so hoch wie nie sind. Zeitgleich warten viele Pflegekräfte weiterhin allein auf einen einheitlichen und allgemeingültigen Tarifvertrag ohne Schlupflöcher für die Entlohnung ihrer Arbeit, von wirklicher Mitbestimmung im Betrieb oder vernünftigen Arbeitszeitmodellen ganz zu schweigen.
So kommt es, dass auch in diesem Winter Intensivstationen wieder an Kapazitätsgrenzen geraten, und das ist nicht allein die »Schuld« der Ungeimpften. Nur noch 22 000 Betten und damit 5000 Betten weniger als im Herbst 2020 stehen zur Verfügung, weil Pflegekräfte den Beruf verlassen haben. Zum Vergleich: In der vierten Corona-Welle sind bis heute weniger als 5000 Betten von Covid-Patienten belegt. Zumindest quantitativ ist die Belastung durch den Personalmangel damit größer als die Belastung durch die Covid-Patienten. Die Situation in den Intensivstationen spitzt sich also dramatisch zu, das Pflegepersonal kollabiert, wichtige Operationen müssen verschoben werden.
Um das Desaster in den Griff zu bekommen, werden hektisch Grundrechtseinschränkungen für Ungeimpfte, teilweise auch für Geimpfte, Veranstaltungsverbote und eine Impfpflicht für Pflegeberufe durchgewunken. Die systemischen Gründe für die Überlastung des Gesundheitssystems behebt man damit freilich nicht. Wir müssen sogar annehmen, dass der Pflegenotstand sich unter diesen Bedingungen weiter verschärft - und mit ihm möglicherweise auch die restriktiven Maßnahmen. Im Sommer forderte der »oberste Wächter über das Gesundheitssystem« (FAZ) Josef Hecken, Vorsitzender des Gemeinsamen Bundesausschusses, bereits die Schließung von 700 Krankenhäusern, ungefähr ein Drittel des Bestandes - aus wirtschaftlichen Gründen.
Individualisierende Schuldzuweisungen
Es ist frappierend, dass die Debatte um die Corona-Politik und die Pandemiebekämpfung bislang nur gelegentlich den strukturellen Pflegenotstand und die Politik kritisiert, die da hingeführt hat. Stattdessen nimmt man immer wieder einzelne Gruppen in die Verantwortung, die »Schuld« daran sein sollen, dass der ganze Wahnsinn nicht endlich aufhört: die feierwütige Jugend, die Touristinnen, die Migranten mit ihren Großhochzeiten, die Ungeimpften, die Jecken beim Kölner Karneval. Erschöpft, verunsichert und müde nach fast zwei Jahren konfuser und kurzsichtiger Pandemiepolitik tritt eine immer schrillere und extrem moralisierende Sündenbockrhetorik an die Stelle einer öffentlichen Diskussion. Diese individualisierende Verantwortungsverschiebung und Schuldzuweisung verweist auf die zweite Krise, die Krise des Politischen. Auch hier haben wir es allerdings nicht mit einem neuen Phänomen zu tun.
Das Moralisieren und Individualisieren politischer Probleme wird seit Jahren in den unterschiedlichsten öffentlichen Debatten eingeübt. Es entstammt in der Regel entweder rechtspopulistischen Diskursen oder den Auswüchsen postmoderner Identitätspolitik. Für die einen ist der Geflüchtete Schuld an der Armut der Oma in der Vorstadt und daran, dass sich die weiße Frau nachts nicht mehr auf die Straße traut. Für die anderen ist der alte weiße Mann Schuld an der nicht endenden Gewalt gegen Frauen und Migranten. In beiden Fällen wird ein politisches Problem in eine konkrete Figur mit schlechtem Charakter verwandelt. Zwar wenden sich identitätspolitische Anliegen meist gerade gegen rechte Tendenzen und formulieren einen emanzipatorischen Anspruch. Zu oft bleibt es dabei aber lediglich bei Forderungen nach Diversität und der Anerkennung verschiedener »guter« Identitäten einerseits und der moralischen Verurteilung der »schlechten« Identitäten andererseits. Im schlimmsten Fall verpasst man mit dieser Strategie dem kapitalistischen Elend einen hippen Anstrich.
Die Ohnmacht wegmoralisieren
Es gibt daher zwar keine inhaltliche Übereinstimmung zwischen Rechtspopulismus und Identitätspolitik, aber eine problematische Strukturanalogie in der Rhetorik: Die Bearbeitung eines politischen Problems wird auf die moralische Verurteilung einzelner Personen oder einer bestimmten Gruppe verkürzt. Es ist dann allzu leicht, zu gereizten Empörungstiraden anzusetzen. Auch die moralische Verurteilung korrupter Banker oder bestimmter Konzerne mit besonders schlimmen Arbeitsbedingungen oder besonders schlimmen Umweltverschmutzungen folgen diesem Muster. In der Tendenz richtet sich die Wut zu oft gegen ein Symptom, das große Ganze gerät zu selten in den Blick.
Diese Vorliebe für die moralische Skandalisierung anstelle einer Analyse und Bearbeitung der zugrunde liegenden gesellschaftlichen Konflikte ist nicht einfach politischer Unfähigkeit oder Naivität geschuldet. Vermutlich handelt es sich um eine Art politischer Übersprungshandlung: Wir leben in einer Zeit, in der ein Gefühl politischer Ohnmacht und Vergeblichkeit, vielleicht sogar Depression große Teile der Bevölkerung durchzieht. Wer nichts wirklich mitgestalten und verändern kann und trotzdem die ganze Zeit vom Optimierungs- und Selbstverbesserungsdruck geplagt wird sowie mit Existenz- oder Abstiegsängsten kämpft, fühlt sich bald machtlos und überfordert. Es ist dann sehr schwer, sich mit den Fehlern im System zu konfrontieren. Leichter ist es hingegen, einen personifizierten Feind auszumachen. Irgendwo muss man ja hin mit der politischen Wut und Trauer. Solange es aber nicht gelingt, Wut und Skandalisierung produktiv in eine grundlegende Kritik und Analyse der systemischen Ursachen für die anhaltende rassistische und sexistische Gewalt, für die frappierende (Alters-)Armut, die katastrophalen Arbeitsbedingungen oder die verheerenden Umweltkatastrophen zu wenden, ist weder Veränderung noch Rettung in Sicht.
Die Macht der Expertise
Die Technokratisierung des Politischen begleitet uns ebenfalls seit Langem. Es handelt sich um eine schleichende Aushöhlung der Demokratie, indem Experten und Sachverständige immer stärker in politische Entscheidungsprozesse einbezogen werden und diese letztlich dominieren. Wir alle kennen die Erzählungen alternativloser Maßnahmen, die wissenschaftlich abgesichert daherkommen. Man erinnere sich an die Finanzkrise: Sparmaßnahmen, Strukturanpassungsprogramme, Rettungsschirme, Konjunkturpakete. Die Wissenschaft habe dieses oder jenes berechnet, die Experten seien sich einig, und eine Studie belege darüber, dass dieses oder jenes zu tun sei. Die Politik müsse jetzt handeln und zwar schnell.
Doch auch innerhalb wissenschaftlicher Fachdisziplinen sind sich die Expertinnen und Experten selten einig. Ihre Forschungsergebnisse sind keine vorpolitischen Wahrheiten. Die Empfehlungen von Politikberater*innen oder privaten Forschungsinstituten hängen in der Regel sehr wesentlich vom politischen Standpunkt der Forschenden ab, auch wenn das meist nicht reflektiert, geschweige denn thematisiert wird. Selbst wenn die wissenschaftliche Politikberatung sinnvoll sein kann, muss doch darauf hingewiesen werden, dass sich aus einer wissenschaftlichen Erkenntnis nie direkt ein politisches Programm ergibt. Der Historiker Caspar Hirschi bringt das folgendermaßen auf den Punkt: »Das Abwägen von Risiken, Setzen von Werteprioritäten und Fällen von Entscheidungen ist Aufgabe der Politik, nicht der Wissenschaft«. Wo Politik so tut, als könne sie einfach »der Wissenschaft« folgen, hebelt sie notwendige gesellschaftliche Debatten aus und entledigt sich ihrer Verantwortung.
Nun wird nicht nur in Krisenzeiten gerne behauptet, dass die Privilegierung einzelner Expertenmeinungen immerhin eine vorausschauende und stabile Politik ermögliche. Ungestört von langwierigen und widerstreitenden Verfahren des Interessenausgleichs könne man sich schlicht an den Prognosen der Experten orientieren, um auf alle Eventualitäten vorbereitet zu sein.
Interessanterweise ist aber genau das nicht der Fall. Die Politikwissenschaftlerin Isabell Lorey weist darauf hin, dass wir es eher mit einer Art »experimentellen Regierens« zu tun haben. Die Experten werden zwar herangezogen, aber man landet damit gerade nicht bei einer Politik der Vorsorge. Im Gegenteil, Lorey sagt: »Nicht vorbereitet zu sein, ist seit Jahrzehnten Teil neoliberaler Ökonomie und Politik, in der die Versorgung des öffentlichen Gesundheitswesens abgebaut, im Sinne privatwirtschaftlicher Profitlogik umgebaut und die Vorsorge in die Verantwortung der Einzelnen gelegt wurde. Es war weder von staatlicher noch von ökonomischer Seite von Interesse, vorbereitet (gewesen) zu sein: zu viele Kosten, zu viel Stillstand der Zirkulation, zu viel Lagerung. Das Risiko einer Just-in-time-Bekämpfung der Epidemie wurde und wird in Kauf genommen. Das ist einer der zentralen Gründe, weshalb wir es im Umgang mit Covid-19 mit einer (…) Politik zu tun haben, die in experimentierender Weise ›auf Sicht‹ fährt« (siehe »nd.DieWoche«, 6. November). Unter den gegenwärtigen Bedingungen geht die Technokratisierung also einher mit einer Politik systematischer Sorglosigkeit und verunmöglicht im Großen das, was sie im Kleinen von den Einzelnen gnadenlos einfordert: Vorbereitet zu sein und präventiv zu handeln.
Politik und Wissenschaft
Es erübrigt sich eigentlich, festzuhalten, dass wir während der Pandemie einen unfassbaren technokratischen Schub erlebt haben. Insbesondere zu Beginn lauschten wir mit ängstlicher Faszination den Berechnungen, Prognosen und Hypothesen einer Handvoll Virologen und Statistikern und folgten ohne nennenswerte gesellschaftliche und parlamentarische Debatten ihren Empfehlungen. Es sollte ja schnell gehen, um Kollateralschäden kümmern wir uns später - vielleicht aber auch nie. Wir haben die politische Debatte damit nicht nur an Experten delegiert, wir haben darüber hinaus diese Expertenrunde auf Spezialisten aus einem sehr begrenzten Fachgebiet - der Epidemiologie und der Virologie - verengt. Als hätten Politikwissenschaftlerinnen, Sozialarbeiterinnen, Ethikerinnen, Therapeutinnen, Erzieherinnen, Soziologinnen, Pflegekräfte und andere Expertinnen nicht auch Wesentliches zum Umgang mit der gesellschaftlichen Situation und zur politischen Entscheidungsfindung während einer Pandemie beizutragen gehabt.
Auch im kürzlich gefällten Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Verfassungsmäßigkeit der »Bundesnotbremse« spiegelt sich die technokratische Tendenz. Der Rechtsprofessor Volker Boehme-Neßler weist darauf hin, dass die Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen aus Sicht des Gerichts verfassungsrechtlich zulässig seien, da Experten aus der Medizin und der Virologie zu dem Ergebnis gekommen seien, dass diese Maßnahmen ein adäquates Instrument zur Pandemiebekämpfung darstellten. Selbst die umstrittenen Schulschließungen werden abgesegnet, zumindest zum momentanen Zeitpunkt, und zwar mit Verweis auf die Gefahr für Leben und Gesundheit der Menschen. Würden sich allerdings neue wissenschaftliche Erkenntnisse ergeben, könne sich auch die verfassungsrechtliche Beurteilung ändern. Boehme-Neßler kritisiert das Urteil, da es einseitig auf die großen Gefahren durch die Pandemie fokussiere und die ebenso großen Gefahren, die mit einschneidenden und lang wirkenden Grundrechtseingriffen verbunden sind, aus dem Blick verliere.
Doch das Urteil irritiert auch noch aus einem weiteren Grund: Bei den pandemiebedingten Grundrechtseinschränkungen haben wir es mit Eingriffen in Bereiche menschlichen Lebens zu tun, die sich nicht allein (natur)wissenschaftlich erfassen lassen. Keine Statistik kann eine sinnvolle Aussage über die Würde des Menschen, über die Versammlungsfreiheit oder das Recht auf körperliche Unversehrtheit produzieren. In diesem Sinne kann es kaum sinnvoll sein, sich bei der Beurteilung so weitreichender Grundrechtseinschränkungen vorwiegend am medizinischen oder epidemiologischen »Stand der Wissenschaft« zu orientieren.
Wie miteinander leben?
Die Krise des Politischen ist eng verzahnt mit einer Krise im sozialen Miteinander, insbesondere dort, wo die politische Analyse und der politische Streit durch individualisierendes moralisches Aburteilen verdrängt werden. Die Krise im sozialen Miteinander ist eine Krise im Selbst- und Fremdbezug: Wir werden immer misstrauischer und ängstlicher, sowohl im Umgang mit uns selbst, als auch im Umgang mit anderen. Natürlich gibt es auch dafür strukturelle Gründe. Ein Grund ist der systematische Abbau sozialstaatlicher Sicherungssysteme, die stetig zunehmende Verarmung, die für viele mit chronischer Existenz- oder Abstiegsangst und Verunsicherung einhergeht. Ein anderer ist die neoliberale Vereinzelung, die Zerstörung kollektiver Strukturen, an denen man sich gemeinsam orientieren könnte und die ein Gefühl von Zugehörigkeit und Gemeinschaft stiften könnten.
Was übrig bleibt, ist eine schale Freiheit, die zwar Selbstverwirklichung in Aussicht stellt, aber nur um den Preis hochgradiger Selbstoptimierung und Selbstüberwachung. Denn so vieles kann bei der postmodernen Selbstverwirklichung falsch gemacht werden. Von der Ausbildung über die Partnerwahl, die sexuelle Performance, die Kindererziehung bis zur Wahl des Urlaubsortes: Ständig kann man versagen, weil man auf etwas nicht geachtet, sich nicht ausreichend informiert, nicht genügend Kontrolle über sich selbst hat. Folglich sind wir verunsichert, gereizt und chronisch überfordert mit einer Welt, die uns ständig dazu aufruft, gefälligst glücklich zu sein. Wir wollen unbedingt alles richtig machen und glauben zu unserem Unglück auch noch, dass das möglich sei.
Wer permanent einem solchen Stress ausgesetzt ist, wittert überall unvorhersehbare Risiken und Gefahren, die es abzuwenden gilt. Wir entwickeln ein präventives Selbstverhältnis und versuchen mittels Disziplin und permanentem Vergleichen dem stets drohenden Scheitern und dem lauernden Kontrollverlust zuvorzukommen. Aus dieser Habtachtstellung heraus begeben wir uns nicht selten in einen aggressiven Selbstverteidigungsmodus. Niemand will die mühsam erarbeitete Individualität, die ohnehin brüchige Sicherheit und die wackelige Glückseligkeit aufs Spiel setzen. Rette sich, wer kann. Wer nicht für uns ist, ist gegen uns. So wird aus dem krisenhaften Selbstbezug eine Krise im sozialen Miteinander. Wir sind hart, auch im Umgang mit den anderen. Entsprechend wird sowohl öffentlich als auch privat gemaßregelt und gemahnt, was das Zeug hält, in der Hoffnung, sich vielleicht doch ein bisschen entspannen zu können, wenn endlich all diese diffusen Gefahren um einen herum gebannt sind.
Hinter dem überschießenden Sicherheitsbedürfnis zittert der postmoderne Angstmensch. Wo sein eigener sozialer Kontrollbereich aufhört, hofft er auf wissenschaftliche Risikoermittlungen, im schlimmsten Fall baut er auf technologische Selbst- und Fremdüberwachung und folgt autoritären Versprechen. Das intensivierte Präventionsverhalten im Fremd- und Selbstbezug hat jedoch eine paradoxe, tragische Seite. Die Prävention bringt gerade keine Sicherheit hervor, sondern verschärft lediglich die Angst, was wiederum die Verunsicherung und das Präventionsbedürfnis anheizt. Je stärker das Bemühen um Sicherheit, desto bedrohlicher erscheint die Welt.
Die Angst lauert überall
Corona hat auch diese Krise drastisch verschärft. Die panischen Daueroptimierer sahen sich in ihrer latenten Katastrophenerwartung bestätigt. Und sie wurden noch argwöhnischer. Eine neuartige Gefahr konnte jetzt auch noch unbemerkt im eigenen Inneren schlummern. Nicht einmal geimpft und getestet kann man sich in Sicherheit wiegen. Jede Begegnung wird zu einem Gesundheitsrisiko, jeder Mitmensch eine Gefahrenquelle, von der man besser Abstand hält. Im privaten wie im öffentlichen Miteinander wird der Ton immer verächtlicher, das Mahnen und Maßregeln nimmt immer rabiatere und autoritärere Züge an. So rief etwa die ehemalige Berliner Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci dazu auf, sich privat nicht mehr mit Ungeimpften zu treffen. Die SPD-Politikerin Marina Reichenbach schreibt: »Impfgegner sind Mörder. So einfach ist das.« Derweil diskutieren Juristen, ob Pflegende mit Gefängnis bestraft werden sollten, wenn sie Corona in ein Heim hineintragen. Es scheint nur ein kleiner Schritt zu sein vom Appell an die Einzelnen, »Verantwortung« für ein unkalkulierbares Risiko zu übernehmen, zur manifesten Schuldzuweisung und Bestrafung bei nicht »optimalem« Präventionsverhalten. Man richtet permanent übereinander, anstatt ein Miteinander zu schaffen, in dem das nicht nötig wäre.
Inzwischen reagieren auch junge und geimpfte Menschen mit einer Panik auf eine mögliche Infektion, die in keinem Verhältnis mehr zu der Aussage von Ärzten steht, dass jüngere Menschen ohne Vorerkrankungen selten einen schweren Verlauf erleben. Selbst diejenigen, die keine Angst vor dem Virus haben, fürchten sich nach fast zwei Jahren repressiver Pandemiepolitik vor Isolation, Quarantäne oder schlicht davor, »Schuld« an der Ansteckung einer anderen Person zu sein. Auch sie gehen auf Abstand und beobachten sich und ihr Umfeld penibel.
Natürlich geht es vielen Menschen auch darum, solidarisch die Alten und die Risikogruppen zu schützen und das Gesundheitssystem nicht zu überlasten. Doch um das zu erreichen, müssten wir uns verbünden, nicht isolieren. Wir müssten gemeinsam für ein besseres Gesundheitssystem, eine würdige Altenpflege und ein Ende der neoliberalen Prekarisierung und Verunsicherung kämpfen, anstatt uns mit der staatlich verordneten Solidarität zu begnügen, die am Ende nichts weiter zu bieten hat, als Vereinzelung oder ein befremdliches, falsches Wir-Gefühl im nationalen Impftaumel.
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