Inszenierung der Furcht

Zu den Protesten gegen Maßnahmen zur Seuchenbekämpfung

  • Helmut Dahmer
  • Lesedauer: 8 Min.
Die letzten Tage von Berlin? Nein, eine Corona-Demo im November 2020.
Die letzten Tage von Berlin? Nein, eine Corona-Demo im November 2020.

»Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden.« (Karl Marx)

Im Frühjahr 1945, als ihnen dämmerte, dass es mit dem verheißenen »Endsieg« nichts würde, suchten viele der »hauptbelasteten« Nazis ihr Heil in der Flucht - etwa über die »Ratten-Linie« nach Lateinamerika. Andere tauchten unter und legten sich flugs eine neue, falsche Identität zu. Die Mehrheit unserer Landsleute aber flüchtete sich ins Vergessen. Diese mehr oder weniger geglückte, angestrengte kollektive Amnesie hielt ein paar Jahrzehnte lang vor, sodass Optimisten sogar den Eindruck gewinnen konnten, der »Antisemitismus ohne Juden« sei an ein Ende gekommen.

NS-Vergangenheit vergessen

Im Gefolge der libertären Minderheiten-Revolte der 68er begann dann ein langwieriger »Aufarbeitungs«prozess der verschütteten Geschichte der fatalen zwölf Jahre, der - wie die Wiederkehr faschistischer Terroristen und Parteien zeigt - der intergenerationell tradierten autoritären Mentalität etwa eines Drittels der Bevölkerung keinen Abbruch getan hat. Die seit 1945 eingeübte Fähigkeit, die NS-Vergangenheit zu vergessen, trifft auch deren Wiedergänger. Anders ist weder das Erstaunen zu erklären, das die Bevölkerung und die Repräsentanten der drei Gewalten bei jedem neuen Terrorakt, jedem Waffenfund und jedem neofaschistischen Chat überkommt, noch die Unfähigkeit und der Unwille, die NSU-Bande zu verhaften und ihr Unterstützerfeld aufzurollen.

Die Brandstifter und Mörder der 90er Jahre, die auf die Wiedervereinigung der beiden deutschen Teilstaaten, die sie überforderte, reagierten, indem sie über 100 Flüchtlinge und »Ausländer« umbrachten, und die Attentäter von Halle und Hanau bilden Glieder einer Kette. Und einzig die fortwirkende kollektive Amnesie hindert unsere Landsleute daran, den Zusammenhang dieser Kettenglieder wahrzunehmen. Sie sehen nicht, dass die Täter Wiederholungstäter sind, die ihnen die verpönte Vergangenheit, die sie noch immer nicht erinnern wollen, vorspielen: Pogrome und Mordaktionen, wie sie im »Dritten Reich« alltäglich waren. Was nicht erinnert werden soll (und dann bald auch nicht mehr erinnert werden kann), drängt zur Darstellung (zum »Acting out«). Doch diese öffentlichen Darbietungen werden so wenig verstanden wie der Sinn von Träumen und Symptomen. Darum gerät auch die Abwehr von Antisemitismus, Xenophobie und Neofaschismus so hilflos wie vor 30 Jahren.

Verkannte Sozialkatastrophe

War die (fatale) Reaktion auf den militärischen Zusammenbruch der NS-Zustimmungsdiktatur ein nachträgliches Ungeschehen-machen-Wollen, so erleben wir gegenwärtig bei einem Teil unserer Bevölkerung (etwa 10 Prozent) eine ähnlich fatale Reaktion auf die Corona-Pandemie, bei der es sich um eine als »Naturkatastrophe« verkannte Sozialkatastrophe handelt. (Diese Verwechslung wird im Übrigen eine angemessene Seuchenprophylaxe verhindern und dadurch über kurz oder lang neue, ähnliche Katastrophen herbeiführen.)

Im Arsenal der psychoanalytisch erkannten »Abwehrmechanismen« ist die Verleugnung der Vorläufer der Derealisierung (also des Ungeschehen-Machens) und des Vergessens. Die NS-»Volksgemeinschaft« verleugnete einst ihre kannibalische Kehrseite (nämlich die »Geheimen Reichssachen« der Krankenmorde und des Holocausts) und versuchte sie dann zu vergessen. Diese vor Jahrzehnten habitualisierten kollektiv-psychologischen Nothilfen wurden aktualisiert, als Anfang 2020 die neuartige Covid-19-Epidemie bei großen Gruppen der Bevölkerung ein ähnliches Ohnmachtsgefühl auslöste wie einst der militärische Zusammenbruch Hitlerdeutschlands bei dessen Funktionären und Mitläufern. Auch diesmal war überwältigende Angst (nun vor der Seuche) die Mutter der Verleugnung.

Und wie der Glaube an den »Endsieg« die Generation der Großeltern bei der Fahnenstange hielt, bis es zu spät war, so retten sich die Verquerdenker nun in den Glauben, es gebe gar keine lebensbedrohende Pandemie, es handele sich nur um ein Gerücht, nämlich die massenmedial propagierte Erfindung einiger Milliardäre und Manager pharmazeutischer Konzerne, die die parlamentarischen Regierungen als ihre Marionetten einsetzten, um die Bevölkerung zu manipulieren (oder »auszuwechseln«) und dadurch ihre Profite zu steigern.

Verkehrung ins Gegenteil

So begann auf Straßen und Plätzen deutscher (und österreichischer) Städte eine weitere Inszenierung von »Furcht und Schrecken des ›Dritten Reiches‹«, diesmal freilich unter dem Imperativ der Verkehrung ins Gegenteil, wie aus der Psychoanalyse bekannt (die von »Traumarbeit« und »Abwehrmechanismen« spricht).

Hatte der NSU die »ungeschehen« gemachte, darum für Bevölkerung und Exekutive unkenntlich gewordene Jagd auf (beliebige) »Fremde« in Szene gesetzt, so spielen die Corona-Leugner das alte Schreckensstück nun mit vertauschten Rollen. War es die Botschaft von Zschäpe und Co.: Seht her, so ging es damals hier zu, und wir zeigen es euch, so lautet die Botschaft der Zehntausenden, die gegenwärtig gegen die Seuchenbekämpfungsmaßnahmen der Regierung(en) demonstrieren (1): Seht her, wir spielen euch vor, wie unsere Großeltern vor 80 Jahren - gemeinsam mit den damals Verfolgten - sich hätten wehren sollen. Wir treten in der Rolle der »Juden« von damals auf, nein: Wir sind die ungeimpften »Juden« von heute.

Und wie aus der zensierenden, entstellenden Übersetzung der (latenten) Traumgedanken in die rätselhaften Bilder der manifesten Träume bekannt, staffieren die Umzugsteilnehmer sich mit lauter unverstandenen Erinnerungsrequisiten aus, schreien »Widerstand!«, tragen selbst gefertigte Judensterne mit dem Schriftzug »Ungeimpft« und paradieren als wiederauferstandene »Geschwister Scholl«. Zehntausende spielen mit dem einstigen Entsetzen, von dem sie keine Ahnung haben. Menschen, die sich als Erniedrigte und Beleidigte fühlen, noch nie am politischen Leben teilgenommen haben, weder gegen sinnlose Kriege protestierten, an denen die Bundeswehr beteiligt war, noch gegen die auf deutschem Territorium stationierten Atomwaffen, weder gegen soziale Ungleichheit noch gegen Korruption auf die Straße gingen, wähnen sich in einer »Diktatur«.

Die Sehnsucht

Wie jeder Wahn hat freilich auch dieser einen realen Kern. Das ist die Erfahrung, dass sie, trotz freier Wahlen, Objekte einer wirtschaftlichen Entwicklung sind, die aus Entscheidungen anonymer Investoren resultiert, und dass sie politisch von Berufspolitikern abhängig sind, die sie zwar wählen, aber nicht kontrollieren können, von Politikern, die den gesellschaftlichen Status quo nur verwalten, statt ihn zu ändern. Was die Demonstranten zu ihren Protesten bewegt, ist die altbekannte »antikapitalistische Sehnsucht«, von der schon der NSDAP-Politiker Gregor Strasser sprach - und, die in Deutschland, nach der blutig niedergeschlagenen Revolution von 1918, auch eine antisozialistische war. Weshalb die Arbeitslosen und die verarmten Mittelschichten dem nationalistischen Messias Hitler in Scharen zuliefen, der von ihnen »nur« verlangte, dreinzuschlagen, »jüdisches« Eigentum zu »übernehmen« und in anderen Ländern Beute zu machen.

Im Wahn

Die heutigen Verquerdenker wollen zunächst einmal ihr »normales Leben«, ihr »Land« und ihre »Freiheit« »zurück«, und das ist eben jene, keine Maske zu tragen, sich nicht impfen lassen zu müssen, ohne Lockdowns, Ausgangssperren und »Abstände« zu leben … Darüber hinaus aber würden sie gern, nach Washingtoner Vorbild, den »Reichstag« stürmen, die »Corona-Diktatur« stürzen und die dafür Verantwortlichen an den Internationalen Gerichtshof ausliefern.

In ihren Fantasien über geheime Weltenlenker (»Verschwörer«), lebt deren Prototyp, die faschistische Legende von der »jüdischen Weltverschwörung«, wieder auf, und das ist mitnichten eine »Theorie«, sondern ein Wahnsystem. Um die Fata Morgana des »Dritten Reichs« zu komplettieren, fehlten bisher nur noch die Flüchtlinge aus der »Corona-Diktatur«, die für sie Wegbereiter eines »illegalen Terror- und Lagerstaats« ist.

Anstelle der historischen Zufluchtsländer der Flüchtlinge aus Hitlerdeutschland (Holland, Frankreich, England, USA) figuriert nun die bulgarische Schwarzmeerküste, wo die Emigranten-Darsteller bereits abgeschottete »Kolonien« gebildet haben - ausgerechnet in einem der Armenhäuser Europas, dem Land mit der höchsten Corona-Sterberate der EU (2). Dort sind die neuen deutschen Emigranten zu finden, die nicht verfolgt werden, sondern freiwillig gehen, während Zehntausende Flüchtlinge aus den Kriegs- und Elendsländern ihr Leben riskieren, um in ebendieses Deutschland zu gelangen.

Zaun im Kopf

In einer Reportage für den »Spiegel« hat Walter Mayr (3) Einblick in deren Lebens- und Traumwelt gewährt: »Früher war das Leben in Deutschland freier …«, sagt einer oder: »Für euch sind wir alle nur Schwurbler, Aluhüte, ihr wollt uns in eine Ecke drängen, an die Wand stellen.« Eine andere, die nur schriftlich auf Interviewfragen reagiert und ein Treffen ablehnt, meint, dass Journalisten, »als Heinzelmännchen daran mitwirken«, dass Millionen Menschen hinters Licht geführt würden wie dumme Schafe, die dann »zwischen eigenen und fremden Gedanken« nicht mehr unterscheiden könnten: »Den Maschendrahtzaun, der durch ihre Köpfe geht, spüren sie nicht, solange sie noch eine und noch eine Testspritze in die Blutbahn bekommen.«

Deutschland (und Österreich) sind mirakulöse Gesellschaften, die auch nach Jahrzehnten von ihrer (entsetzlichen) Vergangenheit nicht loskommen. Als Reaktion auf die Covid-19-Pandemie und die Versuche der Regierung(en), sie einzudämmen, entwickelt sich - drei Jahrzehnte nach dem Sturz der spätstalinistischen DDR-Regierung und ihres Geheimdienstes durch Massendemonstrationen - neuerlich eine nach Zehntausenden zählende, irgendwie antiautoritäre Protestbewegung. Angesichts der ungelösten großen gesellschaftlichen Probleme handelt es sich bei deren Zielen offensichtlich um die Verschiebung auf ein Kleinstes, nämlich auf die »Befreiung« von Masken und Vakzinen. Und weil alles »Unerledigte« wiederkehrt, treten als Wortführer der nun schon Monate anhaltenden Protestumzüge ausgerechnet … Faschisten auf.

Francisco Goya hatte 1799 in seinen »Caprichos« recht: »El sueño de la razón produce monstruos - der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer.

(1) Am 3. Januar 2022 wurden allein in Baden-Württemberg 170 Protestveranstaltungen mit insgesamt etwa 50 000 Teilnehmern registriert. «›Spaziergänge‹ von Gegnern der Corona-Politik gab es in vielen anderen Städten Deutschlands», meldet die FAZ am 5.1.22.

(2) 31 000 Corona-Tote bei knapp sieben Millionen Einwohnern.

(3) Walter Mayr: «Zuflucht Corona Beach», «Spiegel», 30.12.21

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