Mein blau-gelbes Fahrrad

Jeja nervt: Wenn das innere Auge trauert

  • Jeja Klein
  • Lesedauer: 3 Min.

Menschen, die aus dysfunktionalen Familienverhältnissen stammen, stehen als Erwachsene häufig vor einer schwierigen Aufgabe. Als sie Kinder waren, haben sie sich an ein Umfeld angepasst, das ihnen Liebe und die Validierung ihrer Gefühlswelten versagt hat. Egal, ob dies aufgrund von Alkoholsucht, Co-Anhängigkeiten oder Armut geschah und Gewalt oder das fehlende Spiegeln der geschlechtlichen oder sexuellen Identität zur Folge hatte, oder, wie bei mir, all das zusammenwirkte. Wo die Wirklichkeit des Kindes verleugnet wird, hat das traumatische Auswirkungen auf die Entwicklung.

Was jedoch im Kindheitsalter eine gesunde Reaktion auf ungesunde Umstände ist, wird dem Erwachsenen meist zum Problem. Dann brechen Beziehungen immer wieder auseinander und es misslingt der Aufbau vertrauensvoller Freund*innenschaften. Der kindliche Konflikt wird mit neuer Rollenbesetzung wieder und wieder wiederholt. Der Schlüssel zur Heilung dieser dysfunktionalen Anpassungen liegt in den meisten Fällen in der Zurückgewinnung eingekapselter, vom Bewusstsein abgeschnittener Erinnerungen und Gefühle. Trauerarbeit aber passiert nicht von allein. Sie muss gezielt und mit Methode angegangen werden - am besten in einer psychologischen Psychotherapie, in einem Klima von Vertrauen und Sicherheit.

Jeja nervt
Jeja Klein ist eine dieser Gender-Personen aus dem Internet und nörgelt einmal die Woche an Kultur und Politik herum.

Einer solchen Methode habe ich die Wiederentdeckung meines blau-gelben Fahrrads zu verdanken. Als ich ein Teenager war, muss mir das Rad zu Weihnachten geschenkt worden sein. Zwei Jahrzehnte nach seinem Verlust richtete sich mein nach innen gewandter Blick auf dieses blau-gelbe Fahrrad, als ich eine Verlustliste, einen Zeitstrahl meiner schmerzhaften biografischen Erfahrungen rekonstruierte. Ich setzte mich dazu in ruhiger Stimmung an meinen Schreibtisch, zog eine gerade Linie und teilte mein Lebensalter durch die Länge dieser Linie, dann fein säuberlich in gleich große Abschnitte. Wie alt ich jeweils war, in welche Klasse ich ging, in welcher Stadt ich wohnte, all das notierte ich neben die Jahreszahlen seit meiner Geburt.

Und dann begann ich, von heute aus zurück in die Vergangenheit, nach und nach meine großen Verluste zu rekonstruieren. Ich dachte an verlorene Liebesbeziehungen und partner*innenschaftliche Verwerfung, an zwischenmenschlichen Konflikt, an Gewaltbetroffenheit und Schmerzen. An durch mich überschrittene Grenzen. Und an den Tod von Familienmitgliedern. Doch als ich irgendwann über die genaue Jahreszahl eines solchen Sterbefalls grübelte, stand es plötzlich vor meinem inneren Auge: mein blau-gelbes Fahrrad.

Ich erinnerte mich, wie ich mit ihm von der Schule heimfuhr, als meine die Pedale tretenden Füße plötzlich auf heftigen Widerstand stießen. Eine entsetzliche Mischung aus haptischen und akustischen Sinneseindrücken beförderte mich schnurstracks über den Lenker. Als ich unter Strömen von Tränen zurück zum Fahrrad humpelte, lag es mit völlig verzogenem Rahmen am Boden. Das Hinterrad hatte sich dermaßen quergestellt, dass man das Rad schleifen musste, statt es zu schieben. Doch zu Hause ging das Schlimmste erst los. Ich erntete, wie so oft, einen Wutanfall. Was ich mit dem neuen Fahrrad angestellt hatte, wollte man von mir wissen. Ich erinnerte mich, über meiner Verlustliste sitzend, an das bekannte Muster. Egal, was ich tat, stets war ich schuld. Ich müsste lügen, hieß es, immerhin sah das Rad aus, als sei ein Auto darübergerollt. Solche schmerzhaften Beschuldigungen kannte ich. So ging es in meinem Elternhaus eben zu.

Erst in einem Gespräch über den Wutausbruch wurde ich darauf aufmerksam gemacht, dass ich ja gar nicht getröstet worden sei. Getröstet? Ja. Ich hatte mein blau-gelbes Fahrrad verloren. Meine Gesichtszüge erstarrten. Dann entglitten sie mir. Und ich weinte. Wie ein kleines Kind. Liebe Leser*innen, ich übertreibe nicht: Es war das beste Fahrrad auf der ganzen Welt.

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