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Man will kommen, nicht dekonstruieren
Eine Frau will die Pornobranche erobern: Der schwedische Film »Pleasure« zeigt ganz ohne Male Gaze, was sie das kostet
Manche Menschen träumen von einer Karriere als Virolog*in. Als Finanzberater*in. Als Influencer*in. Linnéa (Sofia Kappel) will der nächste große Pornostar werden. Dafür zieht die 19 Jahre alte Schwedin auch gleich nach Los Angeles, die »Hauptstadt der Pornos«, das San Fernando Valley gleich um die Ecke - und ist mehr als bereit, sich auf die Regeln des Geschäfts einzulassen. Regel Nummer eins: Bloß nicht mit den Kolleginnen in der Wohngemeinschaft abhängen.
Linnéa verdaut gerade ihren ersten Dreh als Bella Cherry, hinter ihr funkelt das Poolwasser in der kalifornischen Sonne. Die Männer, die eben noch hinter der Kamera standen, mustern die Anfängerin neugierig von der Seite. Linnéa schaltet in Netzwerkmodus und will wissen, worauf es ankomme beim Erfolg. Es fällt das Wort Spaß. Und: »Du solltest dich von den Mädels fernhalten«, darin sind sich Regisseur und Produzent einig. »Ja, ich weiß«, pflichtet Linnéa ihnen sofort bei. »Nur Drama.« Linnéa dabei zuzusehen, wie sie die Branche eines Besseren belehrt, ist einer der vielen Vorzüge von »Pleasure«, dem Debütfilm der schwedischen Regisseurin Ninja Thyberg.
In einer Zeit, in der »sogar« die Freundin des Wendlers auf Onlyfans (einer Plattform für expliziten Content) blankzieht, könnte ein Film über die Pornoindustrie fast schon bieder wirken. Erst recht aus Berliner Perspektive, wo Kinks zum guten Ton gehören, Sexpositivität ein gängiges Datingkriterium ist und Fetischpartys vor Corona ebenso beliebte Freizeitvergnügen waren wie Flohmarktbesuche. Doch genau hier bewährt sich die Dramaturgie Thybergs, die auch das Drehbuch zum Film verantwortete: Was gehört eigentlich zum Making-of eines Pornostars? Eine destruktive Persönlichkeitsstruktur? Mit diesem Vorurteil kommt man offensichtlich nicht weit.
Zur Gebrauchsanleitung des Mainstream-Pornos gehört, seine Produktionsabläufe auszublenden und die sexistischen, rassistischen und anderweitig problematischen Strukturen hinzunehmen, die unser Begehren ebenso prägen wie alle anderen Lebensbereiche. Gesellschaftskritik ist der ultimative Cockblocker; man will kommen, nicht dekonstruieren. »Pleasure« schafft Zeit und Raum für das Verständnis einer tabuisierten Industrie, deren Arbeitsbedingungen und Alltagspraktiken - ohne zu urteilen.
Vier Jahre hat Ninja Thyberg im »Porn Valley« - noch so ein Synonym für die Gegend - recherchiert; eine längst überfällige Arbeit, wie die Regisseurin und Drehbuchautorin in Interviews erzählt. Ihren gleichnamigen Kurzfilm (2013) stützte sie lediglich auf das Wissen aus ihrem Studium der Gender Studies. Für die Langfassung musste Feldforschung her. »Glauben, was gesagt wird, keine Psychoanalyse oder ähnliches«: So lautete ihre Methode, um Klischees und die eigenen Vorbehalte über Sexarbeit zu untergraben. Thyberg führte Interviews, gewann das Vertrauen der Szene, besuchte diverse Sets und knüpfte Freundschaften. Mit Ausnahme der Protagonistin besteht der gesamte Cast, vom Agenten über die Mitbewohnerin bis zur Erzrivalin, aus authentischen Pornoprofis. Und natürlich ist der inszenierte Blick hinter die Kulissen nicht nur aufregend, sondern auch peinlich und bisweilen unvermittelt schmerzhaft.
Dass Linnéa vor jedem Einsatz mit ihrer Unterschrift in die gefilmten Handlungen einwilligt, bewahrt sie nicht vor Erlebnissen mit traumatisierendem Potenzial. Dass sie Nein sagt, heißt nicht, dass ein Dreh auch abgebrochen wird. Dass sie missbraucht wird, hat nicht zur Folge, dass ihr die Lust am Unterwerfen vergeht - im Gegenteil.
Nur wenige Filme führen die eigene Sozialisation so gekonnt vor wie »Pleasure«, erst recht, wenn man es sich in der Welt des feministischen Pornos bequem gemacht hat. Für ihr erstes Video spielt Bella Cherry »das unschuldige Mädchen von Nebenan«. Übergewichtige Kerle, runtergelassene Jalousien, eine billige Couch und ein grauer Flokati: Nichts an diesem Gonzo-Porn-Set ist sexy, und dann übernimmt Bella Cherrys Kollege auch noch die Kamera, um das Point-of-View-Erlebnis zu garantieren. Das Publikum von »Pleasure« aber bekommt Bella Cherrys Genitalien ebenso wenig zu sehen wie den Orgasmus des Mannes. Wir sehen Bella, wie sie im Anschluss nach ihrem Handy fragt, um sich selbst ins Bild zu setzen: Sie knipst ein stolzes Selfie von ihrem glibberig glänzenden Gesicht.
Thyberg überlässt ihre Hauptfigur niemals dem Male Gaze, was erfrischend, teils aber auch schlicht grauenvoll ist, etwa wenn der Film eine Vergewaltigungsszene aus Linnéas Perspektive zeigt. Das Publikum sieht schwarz, weil ihre Augen - was sonst - zugekniffen sind. Das Unheil nimmt dennoch seinen Lauf. Das Grunzen, Beleidigen und Wimmern lassen darüber keinen Zweifel.
Linnéa macht trotzdem weiter, sie will ein »Spiegler-Girl« wie die Schneewittchen-gleiche Ava, werden. Diese Darstellerinnen sind nach ihrem Agenten benannt und sind dafür bekannt, keine Grenzen zu haben. Linnéa ist nicht um die halbe Welt gezogen, um eine von den Normalen zu sein, sondern Teil der Elite. Eine, die bei Poolpartys nicht im Bikini erscheinen muss. Eine, die von den Make-up-Artists bevorzugt wird. Eine, die nicht als Konkurrenz gilt, sondern als Gewinnerin.
2000 Frauen hat Ninja Thyberg kontaktiert, um die Frau zu finden, über die sich das Publikum nicht erheben kann, weil sie Stärke und Verletzlichkeit vereint und die Frage nach Rettung mit ihrem selbstbewussten Spiel für nichtig erklärt. 600 davon hat die Filmemacherin getroffen, anderthalb Jahre verstrichen. Das Warten auf Sofia Kappel, eine Amateurin ohne Kameraerfahrung, hat sich mehr als gelohnt. Den unbedingten Aufstiegswunsch spielt Kappel ebenso einnehmend wie die verhaltene Ehrfurcht angesichts der eigenen Grenzen. Um das Vergnügen der Protagonistin geht es in »Pleasure« tatsächlich eher wenig. Viel mehr geht, zeigt das Coming-of-Age-Drama, was die Branche ihren Akteur*innen abverlangt - und welchen Preis man für den Erfolg zahlt.
»Pleasure«: Schweden/Niederlande/Frankreich 2021. Regie: Ninja Thyberg. Mit: Sofia Kappel, Evelyn Claire, Dana DeArmond, Revika Anne Reustle, Chris Cock. 109 Min, Start: 13. Januar.
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