Unser Reichtum

Das Bruttoinlandsprodukt war 2021 etwa 15 Prozent größer als 2010: Über Wachstum, Wohlstand und die Mühe, das Einkommen verdienen zu gehen

Jetzt ist es raus: 3564 Milliarden Euro beträgt das Bruttoinlandsprodukt (BIP) Deutschlands für das Jahr 2021, die Pro-Kopf-Wirtschaftsleistung stieg auf 42 839 Euro. Dies ist jedoch nur ein Durchschnitt – wer real wie viel vom gemeinsam produzierten Reichtum erhält, darüber schweigt das BIP. In ihm sind alle zu einer Zahl zusammengefasst, vom millionenschweren Konzernvorstand bis zur unterbezahlten Pförtnerin, die sein Auto bewacht.

3564 Milliarden sind eine Stange Geld, dennoch ist man unzufrieden. Denn im Vergleich zum Vorjahr ist das BIP nur um 2,7 Prozent gestiegen. Beschwichtigt wird die Unzufriedenheit auch nicht durch die Tatsache, dass das BIP nun etwa 15 Prozent größer ist als zum Beispiel 2010, das als wirtschaftlich erfolgreiches Jahr gilt. Denn beim BIP zählt nie die Größe, sondern immer nur die Steigerung gegenüber dem Vorjahr.

Berechnet wird das BIP als Summe der Marktpreise aller in einem Jahr produzierten Güter. Schon aus dieser »Preiskonvention folgt eine Schlagseite zugunsten von Quantität gegenüber Qualität, Menge gegenüber Güte«, so der Philosoph Oliver Schlaudt. Für Ökonomen ist das kein Problem, denn in ihrer Welt ist mehr tendenziell immer besser als weniger. Zweifel daran äußerte schon vor bald 100 Jahren Simon Kuznets, der als »Erfinder« des BIP gilt: »Ökonomische Wohlfahrt kann nicht adäquat gemessen werden, wenn nicht die individuelle Einkommensverteilung bekannt ist. Kein Einkommensmaß trägt zudem der Rückseite des Einkommens Rechnung, nämlich wie stark und wie unangenehm die Mühe ist, das Einkommen verdienen zu gehen.«

Die Mühe, die das Einkommen kostet, ist kein Thema für Ökonomen, sondern für die Medizin: »Bezogen auf das Bruttoinlandsprodukt ist die Leistungsdoktrin erfolgreich, keine Frage. Bezogen auf die Gesundheit der Menschen wirkt sie sich allerdings psychotoxisch aus«, so der Psychologie Christoph Joseph Ahlers, der auf »eine epidemische Zunahme an Diagnosen von psychischen, psychosomatischen und Verhaltensstörungen in der Gesamtbevölkerung« verweist.

Als Ertrag dieser Mühe stehen den Menschen die im BIP zu ihren Preisen aufgelisteten Endprodukte zur Verfügung. Wobei die BIP-Berechnung auch hier eine bemerkenswerte Definition vornimmt: Als Endprodukte gelten ihr Dinge wie Brot, Toaster, Smartphones, also Konsumgüter. Diese als »Endprodukte« zu bezeichnen unterstellt, in ihrer Bereitstellung zwecks Konsum hätte die kapitalistische Ökonomie ihr Ende, also ihren Zweck. Das könnte man auch anders sehen. Denn »im Konsum stellt der Endverbraucher seine Arbeitskraft wieder her, die er am nächsten Morgen wieder in die Produktion einspeist, damit die großen Maschine immer weiter läuft«, so Schlaudt. So betrachtet, wäre das wahre »Endprodukt« der Profit, der immer weiter wachsen muss. Wie das BIP.

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