Ungleichheit: inakzeptabel

Gerhard Trabert ist Arzt und wäre ein Bundespräsident neuen Typs, würde er in das Amt gewählt

Seit 30 Jahren Arzt für Menschen ohne Krankenversicherung und im Einsatz für Geflüchtetete: Gerhard Trabert, der jetzt für die Linke für das Amt des Bundespräsidenten kandidiert
Seit 30 Jahren Arzt für Menschen ohne Krankenversicherung und im Einsatz für Geflüchtetete: Gerhard Trabert, der jetzt für die Linke für das Amt des Bundespräsidenten kandidiert

Sie sind seit Kurzem Kandidat zur Wahl des Bundespräsidenten. Wie war Ihr Tag?

Interview
Gerhard Trabert ist Arzt und Professor für Sozialmedizin und Sozialpsychiatrie an der Hochschule Rhein-Main in Mainz. Von der Linkspartei wurde der 65-Jährige in dieser Woche als Kandidat zur Wahl des Bundespräsidenten am 13. Februar nominiert. Trabert ist Gründer und Vorsitzender des Vereins Armut und Gesundheit in Deutschland, der Mitglied in der Nationalen Armutskonferenz ist. Schon 1994 gründete er in Mainz eine medizinische Versorgungseinrichtung für Wohnungslose. Mit einem »Arztmobil« suchen Trabert und seine Kollegen Notunterkünfte und andere Einrichtungen auf und bieten kostenlose medizinische Behandlung an. Trabert bekam als erster Arzt in Deutschland für diese Form der mobilen Praxis eine kassenärztliche Zulassung. Bereits 2004 wurde er mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet und im vergangenen Jahr zum Hochschullehrer des Jahres gekürt.

Zudem nahm Trabert an Einsätzen ziviler Seenotretter im Mittelmeer teil und beteiligte sich an der medizinischen Versorgung Geflüchteter, unter anderem in der nordsyrischen Autonomieregion Rojava, auf der Insel Lesbos und in Bosnien-Herzegowina. Zum Online-Gespräch mit »nd« am Donnerstagabend kam er nach einem langen Arbeitstag.

Zuerst hatte ich drei Vorlesungen online. Es waren die ersten Veranstaltungen nach den Weihnachtsferien. Ich habe kurz meine Kandidatur erwähnt - und es gab dazu viel Zustimmung von den Studierenden, aber dann ging es normal weiter. Danach hatte ich zwei Interviews zu meiner Kandidatur.

Im Anschluss war ich mit dem Arztmobil unterwegs, teilweise wurde ich dabei von einem Kamerateam begleitet. Thematisch ging es dabei aber darum, wie Ärzte in den Impfzentren bezahlt werden. Sie bekommen ja häufig pro Stunde 150 Euro, was ich kritisiere. Das ist in meinen Augen kein gutes Zeichen, solange die Pflegenden so schlecht bezahlt werden. Und ich weiß, dass viele Ärzte so etwas auch ehrenamtlich machen.

Wen haben Sie mit dem Arztmobil aufgesucht?

Wir haben zwölf Patienten und eine Patientin behandelt, die auf der Straße oder in Notunterkünften leben. Heute war ein sehr trauriger Tag: Ein Mann, den ich schon seit zehn Jahren kenne, musste reanimiert werden. Ich hatte mit ihm noch vor zehn Tagen darüber gesprochen, wie notwendig es wäre, dass er stationär behandelt wird, was er aber nicht wollte. Es sieht es überhaupt nicht gut für ihn aus. Bei den anderen Patienten ging es um die Behandlung von Verletzungen oder Abszessen, die Drogenabhängige betreffen, auch um Impfberatungen. Wohnungslose Menschen haben übrigens ein hohes Bewusstsein für die Gefahr durch Corona. Sie fragen von sich aus nach Impfterminen, da müssen wir nicht hinterherlaufen, und wir haben schon sehr viele geimpft.

Sind Sie eigentlich so der Goethe-Typ, was Ihr Schlafbedürfnis angeht? Nach dem zu urteilen, was Sie offenbar schon ohne Präsidentschaftskandidatur so bewältigen, scheinen Ihnen zwei Stunden auszureichen …

Nein. Als Professor, da bin ich auch der Hochschule dankbar, kann ich meine Vorlesungen so platzieren, dass es möglich ist, die Arbeit mit dem Arztmobil zu machen. Außerdem gibt es mehrere Monate im Jahr vorlesungsfreie Zeit. Und natürlich bin ich Teil eines Teams.

Wie viele Menschen arbeiten da mit?

Wir haben in unserer »Poliklinik ohne Grenzen« ungefähr 30 ehrenamtlich arbeitende Ärztinnen und Ärzte. Ein Arzt ist mit einer halben Stelle fest angestellt; zudem haben wir sechs angestellte Sozialarbeiterinnen, Krankenschwestern, Arzthelferinnen. Und der Verein muss ja auch geführt werden. Insgesamt arbeiten bei uns 23 Angestellte mit sehr unterschiedlichen Arbeitszeiten.

Wird die Arbeit Ihres Vereins komplett über Spenden finanziert?

Ja, bis auf eineinhalb Stellen in der sozialen Arbeit - da haben wir vom Land Rheinland-Pfalz eine Clearingstelle finanziert bekommen. Die beiden Sozialarbeiter dort versuchen, Menschen ohne Krankenversicherung wieder in das normale Versorgungssystem zu integrieren. Sie haben es nach der jüngsten Erhebung geschafft, 40 Prozent der Leute wieder in die Krankenversicherung zu integrieren. Wir wollen nämlich nicht so etwas sein wie »Die Tafel« bei der Lebensmittelversorgung. Aber wenn wir unsere Arbeit nicht tun, sterben Patienten, denn leider gibt es erhebliche Lücken in der Gesundheitsversorgung.

Hätten Sie sich eigentlich auch als Kandidat für das Bundespräsidentenamt aufstellen lassen, wenn Sie eine reale Chance gehabt hätten, gewählt zu werden?

Natürlich. Klar habe ich keine Chance. Aber ich möchte diese Möglichkeit nutzen, um auf die große soziale Ungerechtigkeit in diesem Land hinzuweisen, auch auf den skandalösen Umgang mit geflüchteten Menschen im In- und Ausland. Ich glaube, mit meinen Erfahrungen als Arzt in sehr prekären Situationen, zum Beispiel in Nordsyrien oder im Irak, wäre ich der Verantwortung dieses Amtes durchaus gewachsen.

Was würden Sie anders machen als Frank-Walter Steinmeier?

Ich wäre für mehr Nähe zu benachteiligten Menschen. Und ich würde auch als Bundespräsident versuchen, 14 Tage im Jahr mit einer Hilfsorganisation im Mittelmeer unterwegs zu sein und alle zwei oder drei Wochen im Arztmobil. Dafür würde ich gern den einen oder anderen Empfang weglassen.

Meinen Sie wirklich, dass es in den Köpfen der Mächtigen etwas bewegt, wenn Sie jetzt für ein paar Wochen über die soziale Frage sprechen?

Ich hoffe es zumindest. Ich glaube auch, dass viele bei den Grünen oder aus der SPD mit der Sozialpolitik der neuen Ampel-Koalition nicht zufrieden sind. Gerade diese Parlamentarier und gesellschaftlichen Kräfte hoffe ich damit zu unterstützen. Und wir müssen Verantwortliche immer wieder mit diesem Problem konfrontieren. Es hat auch nichts mit einer Neid-Debatte zu tun, wenn man eine Umverteilung von oben nach unten einfordert. Ich bin enttäuscht von der neuen Regierung, dass Instrumente wie die Vermögensteuer oder eine höhere Einkommensteuer für die sehr Wohlhabenden keine Rolle mehr spielen. Mir hilft es, glaube ich, dass ich nachweisen kann: Ich rede nicht nur, ich handle seit 30 Jahren.

Die Linke hat ja ein Programm, das sehr zur Lösung der sozialen Frage beitragen könnte. Warum, glauben Sie, schlägt sich das nicht in ihrem Wahlergebnis nieder?

So richtig kann ich mir das nicht erklären. Ich denke aber, dass es immer noch viel mit diesen Kampagnen von konservativer und neoliberaler Seite zu tun hat. Da wurde immer wieder vor einem »Linksrutsch« gewarnt. Wenn ein höherer Mindestlohn, eine Bürgerversicherung, höhere Hartz-IV-Sätze ein Linksrutsch sind: Wie weit rechts steht dann diese Gesellschaft? Ich glaube, Die Linke wird weiter gezielt stigmatisiert und diffamiert. Und leider wirkt das - das habe ich zum Teil selbst gemerkt, als ich im vergangenen Jahr als Parteiloser für Die Linke für den Bundestag kandidiert habe. Daraufhin bin ich bei Veranstaltungen ausgeladen worden und habe E-Mails bekommen, in denen es hieß: Wir haben Sie und Ihren Verein immer unterstützt, aber jetzt, wo Sie den Kommunisten nach dem Mund reden, ist Schluss.

Sehen Sie auch Versäumnisse bei der Linken selbst?

Ich finde, es steht mir nicht zu, der Partei Ratschläge zu geben. Ich würde nur sagen: Ihr habt dieses Thema soziale Gerechtigkeit, besinnt euch vielleicht noch mehr darauf, geht diesen Weg weiter und seid solidarisch.

Glauben Sie, dass sich der Gegensatz zwischen Arm und Reich durch die Coronakrise noch einmal zuspitzt?

Davon bin ich überzeugt. Ein Forscherteam der Uni Düsseldorf hat schon im August 2020 belegen können: Hartz-IV-Bezieher haben eine um 80 Prozent höhere Infektionsrate und haben auch schwerere Krankheitsverläufe als Wohlhabendere. Die Wohlfahrtsverbände haben gefordert, den Hartz-IV-Regelsatz in der Pandemie um 100 Euro zu erhöhen, aber das ist nicht passiert. Stattdessen gab es im vergangenen Jahr eine Einmalzahlung von 150 Euro, und der Regelsatz wurde nur um drei Euro erhöht. Das entspricht angesichts der Inflationsrate einer erheblichen Senkung der verfügbaren Mittel.

Ich würde mir wünschen, dass in dem Expertengremium beim Gesundheitsministerium ein Sozialmediziner vertreten wäre oder jemand, der um die Nöte der Armen weiß. Außerdem ist das Thema Armut ein Querschnittsthema, das bei Maßnahmen aller Ministerien immer mitgedacht werden müsste. Zumal durch die Pandemie noch mehr Menschen in die Insolvenz geraten sind. Krankheit ist der dritthäufigste Grund für Verschuldungssituationen in diesem reichen Land.

Woran merken Sie, dass die Armut zunimmt?

Daran, dass immer mehr Menschen unser Arztmobil nutzen. Es kommen die normalen Bezieher von Arbeitslosengeld II, die kein Geld bekommen, weil ihre Angaben überprüft werden. Zahlungen werden eingestellt, und die Eigenleistungen im Gesundheitssystem nehmen zu. In der Zwischenzeit haben sie schlicht gar kein Geld. Dann haben wir Patienten, die Mitglied privater Krankenkassen sind und die die Beiträge nicht mehr zahlen können, teilweise schon seit Jahren. Privat Versicherte können ab dem 55. Lebensjahr können nicht mehr zurück in eine gesetzliche Krankenkasse. Und natürlich haben die Agenda 2010 und die Mietenexplosion die Verarmung vorangetrieben. Da muss sich etwas ändern.

Die Verbesserung der katastrophalen Situation vieler Geflüchteter in der EU ist Ihnen ebenfalls ein wichtiges Anliegen. Was erwarten Sie in Sachen Asylpolitik von der neuen Bundesregierung?

Bei diesem Thema hat Deutschland versagt. Natürlich kann man prüfen, ob jemand zu Recht hier ist. Aber Menschen in Flüchtlingslagern wie Moria auf der Insel Lesbos dahinvegetieren oder im Mittelmeer ertrinken zu lassen, das ist nicht zu akzeptieren. Da erwarte ich, dass die Bundesrepublik eine Vorreiterfunktion einnimmt und zum Beispiel Italien garantiert, dass wir Kontingente von aus dem Mittelmeer Geretteten aufnehmen. Natürlich ist das eine gesamteuropäische Herausforderung. Aber ich kann nicht immer auf den Nachbarn deuten und sagen: Nur wenn alle mitmachen, tun wir auch etwas.

Nicht zu akzeptieren ist auch die Zurückdrängung von Menschen an den EU-Außengrenzen. Das verstößt gegen europäisches Recht, und da muss Deutschland sich künftig klarer positionieren. Auch beim Thema Familiennachzug muss endlich etwas passieren. Es ist unmenschlich, dass selbst anerkannte Geflüchtete ihre engsten Angehörigen oft jahrelang nicht nach Deutschland holen können.

Die Bundesregierung muss sich auf EU-Ebene auch der Tendenz entgegenstemmen, dass im Asylrecht Schnellverfahren durchgesetzt werden, die Abschiebungen noch weiter erleichtern.

Rechte, Konservative und sogar Sozialdemokraten sprechen vom sogenannten Pull-Faktor, den die zivile Seenotrettung darstelle: Sie würden Menschen ermutigen, in unsicheren Booten übers Mittelmeer nach Europa zu kommen, sagen sie, und diffamieren Hilfsorganisationen als Schlepper.

Das ist reine Demagogie. Es gibt sogar eine gemeinsame Studie von Forschern einer Hochschule in Florenz und der Universität Oxford, die herausfanden, dass es keinen Zusammenhang zwischen starker Rettungsaktivität und der Zahl Geflüchteter in Seenot gibt. Der einzige Effekt, den die Arbeit der Seenotretter hat: Es überleben mehr Menschen die Fahrt.

Menschen fliehen vor Krieg oder extremer Armut und nicht, weil sie Glücksritter sind, die das Paradies suchen. Eines der reichsten Länder muss da doch Verantwortung übernehmen. Und da gebe ich Angela Merkel recht: Wir schaffen das!

Aber wenn es vor allem ehrenamtlich Engagierte sind, die das schaffen, dann zahlen sie einen zu hohen Preis.

Das ist richtig, der Staat ist hier in der Verantwortung. Was ich trotzdem ermutigend finde, das ist die Seebrücke-Bewegung, in der sich viele junge Menschen engagieren, und die Initiative »Sichere Häfen«. Kommunen, die ihr angehören, haben ihre Bereitschaft erklärt, Menschen aufzunehmen.

Auch in der Linken gibt es prominente Genossen, die sagen, Geflüchtete sorgten für mehr Konkurrenz auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt, und das Engagement für Geflüchtete sei meist ein Hobby Wohlhabender, die von dieser Konkurrenz nicht betroffen sind ...

Ich habe mit vielen gesprochen, und ich glaube, dieses Engagement hat etwas mit einer Grundeinstellung zu tun. Ich finde es absolut fatal, Armut gegen Armut auszuspielen. Man führt die Debatte in eine sehr gefährliche Richtung, wenn man sagt, der obdachlose Deutsche leidet darunter, dass jemand einen geflüchteten Syrer unterstützt. Das ist doch keine Frage von Arm gegen Arm, sondern von Reich gegen Arm. Es muss eine Umverteilung geben.

Sie haben es kurz erwähnt: Sie haben sich zur Bundestagswahl 2021 als Parteiloser in Mainz, auch für Die Linke, um ein Direktmandat beworben - und dabei ein Erststimmenergebnis von beachtlichen 12,7 Prozent erreicht. Könnten Sie sich vorstellen, das noch einmal zu probieren, vielleicht sogar mit einem Listenplatz?

Ich weiß es momentan wirklich nicht. Aber ich bin jetzt an einem Punkt, wo ich 30 Jahre an der Basis gearbeitet habe und feststelle, dass die politischen Rahmenbedingungen nicht besser werden. Da überlege ich schon, ob ich darauf nicht eher Einfluss nehmen könnte, wenn ich ein Mandat hätte. Aber das werde ich später entscheiden.

Dass ich parteilos bin und bleibe, hat übrigens nichts mit der Linken zu tun, sondern es hat eher etwas mit mir zu tun. Ich bin, glaube ich, nicht dafür geschaffen, in Parteistrukturen zu agieren, wo es doch oft um Macht und interne Kämpfe geht, und das gilt für alle Parteien.

Woher kommt Ihr innerer Antrieb für all das, was Sie tun? Was hat Sie geprägt?

Ein Faktor ist sicher, und das ist mir erst in den letzten Jahren bewusst geworden: Ich bin in einem Waisenhaus aufgewachsen - aber als Sohn eines Erziehers. Ich war also der Privilegierte. Wir haben direkt in dem Heim gewohnt, ich bin mit den anderen Kindern von dort in die Schule gegangen und habe sehr früh gesehen: Ich bekomme viel mehr Geburtstagsgeschenke, ich kann in den Urlaub fahren. In der Schule wurden immer die Heimkinder verdächtigt, wenn etwas passiert war. Ich glaube, aus dieser Zeit kommt mein Bedürfnis, etwas gegen diese Ungerechtigkeit zu tun.

Das andere hat mit meinem Vater und mit meinem Großonkel zu tun. Mein Vater wurde noch als 17-Jähriger zur Wehrmacht eingezogen. Er war gegen Krieg und hat mir immer von seinem Onkel Ferdinand erzählt, Sozialdemokrat und Antifaschist. Der hat meinem Vater gesagt: Es wird die Zeit kommen, wo ich mit einem Zylinder auf dem Kopf durch die Stadt fahre und die Niederlage von Hitler feiere. Dieser Onkel war auch im KZ Osthofen in der Nähe von Worms, wurde dann an die Ostfront strafversetzt - und ist bei einem Heimaturlaub tragischerweise bei einem Bombenangriff der Alliierten ums Leben gekommen. Dieser Onkel, den ich nur aus den Erzählungen meines Vaters kenne, hat mir sehr imponiert. Dass er in einem so totalitären Regime so viel Mut und Klarheit bewiesen hat. Nie mehr Faschismus, nie mehr Rassismus - und couragiert zu sein, das ist für mich auch sein Vermächtnis. Diese Verpflichtung, gegen Ungerechtigkeit aufzustehen, haben wir heute umso mehr, als es in der heutigen Gesellschaft keine vergleichbare Gefahr bedeutet. Wobei ich nicht verkenne, was es bedeutet, von Rechten bedroht zu werden.
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