Rückzug der Küsten

Eine umfassende Studie liefert einen Überblick über den Zustand der Ufer des Polarmeers und die Gründe für deren zunehmende Erosion

  • Ingrid Wenzl
  • Lesedauer: 6 Min.

Über immer längere Zeiträume sind Teile des Arktischen Ozeans eisfrei. Ein Hitzerekord folgt dem anderen, Gletscher schmelzen, der Permafrostboden taut. Die Arktis ist überproportional stark von der Erderwärmung betroffen. Damit verändert sich auch das Gesicht der dortigen Küstenlandschaften. Das Wechselspiel dabei relevanter Faktoren, Ausmaß und Folgen dieser Veränderungen stehen im Mittelpunkt einer großen Überblicksstudie, die diese Woche in einer Sonderausgabe der Fachzeitschrift »Nature Reviews Earth & Environment« zum Thema Permafrost erschienen ist.

Arktische Küsten zeichnen sich durch eine hohe geomorphologische Vielfalt aus. So gibt es große Unterschiede, wie das jeweilige Relief einer Küstenlandschaft aussieht: flach oder hügelig, durchschnitten von Tälern, mit vielen Eiseinschlüssen oder wenigen. Nur ein Drittel der arktischen Küsten besteht aus Fels. Ein Großteil der übrigen - so die bis zu 40 Meter hohen Steilküsten Alaskas, Kanadas und Sibiriens - setzt sich aus Sedimenten, Geröll der letzten Eiszeit und bis zu 90 Prozent Bodeneis zusammen. Man spricht von Permafrostküsten, da sie ganzjährig gefroren sind. Kaum Bodeneis enthalten dagegen Steinküsten und Strände Grönlands, des Kanadischen Archipels und Spitzbergens.

Die Permafrostküsten trifft der Klimawandel besonders hart. Über Jahrtausende hielt das Eis die Sedimente fest zusammen. Jetzt, wo die Temperaturen vermehrt über null Grad klettern, werden diese Küsten instabil, die Küstenlinie verschiebt sich landeinwärts.

Doch es sind nicht nur die steigenden Temperaturen der Luft und des Wassers, die ihnen zusetzen. »Die Erosion der Küsten hängt fundamental davon ab, wie viele Monate im Jahr sie durch Meereis geschützt sind«, erklärt die Leitautorin einer der Studien, Anna Irrgang vom Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung (AWI). Je weniger die Küste durch Eis abgeschottet wird, desto schneller nagen die Wellen an ihr. Auch bilden sich bei Wind größere Wellen, die eine größere Wucht entfalten. So sind die Prognosen für zukünftige Küstenveränderungen eng mit denen zur Meereisbedeckung verknüpft. Letztere sind noch mit großen Unsicherheiten behaftet. Ein Teil der Wissenschaftler*innen geht davon aus, dass der Arktische Ozean schon Mitte des Jahrhunderts im Sommer eisfrei sein könnte.

In einer bereits Ende November 2021 in »Nature Comunications« erschienenen Studie kommt ein Team um Michele McCrystall von der kanadischen University of Manitoba in Winnipeg zu dem Ergebnis, dass die arktischen Niederschläge bereits Jahrzehnte früher als bislang angenommen im Sommer und Herbst als Regen fallen könnten. »Wenn es an Permafrostküsten mehr regnet, verstärkt sich die Erosion zusätzlich«, erklärt Irrgang. Wasser sickere im Gegensatz zu Schnee besser in den Boden ein. Dafür suche es sich Spalten. Werde es wieder kälter, bilden sich dort Eiskeile. »Diese sprengen vorher zusammenhängende Flächen auf. Das kann entlang der Küste unter Welleneinwirkung das Kliff destabilisieren, sodass ganze Tundra-Blöcke auf einmal ins Wasser fallen. So kann die Küste in kürzester Zeit um mehrere Meter zurückgehen«, sagt die Wissenschaftlerin am AWI.

Die größten Bodenverluste in der Arktis verzeichnet die Beaufort-Küste in Nordkanada und Alaska. Auf US-amerikanischem Territorium zog sie sich seit den 1940er Jahren bis 2010 durchschnittlich um etwa 1,80 Meter pro Jahr zurück; auf kanadischem Gebiet waren es von 1951 bis 2011 rund 0,70 Meter jährlich. In flacheren Abschnitten führten Überschwemmungen der Tundra dazu, dass sich die Küstenlinie im alaskischen Teil seit den 1980ern bis in die 2010er Jahre um rund 25 Meter pro Jahr ins Landesinnere verschob. Im kanadischen Depandant waren es von 1950 bis 2011 bis zu 5,80 Meter pro Jahr.

Dabei fallen die Änderungen laut Irrgang umso moderater aus, je länger die Beobachtungszeiträume sind. »Das liegt daran, dass zum Beispiel der Effekt einzelner Stürme durch dazwischenliegende Phasen mit vergleichsweise niedriger Wellenaktivität ausgeglichen wird«, sagt sie. Die insgesamt höhere Erosionsrate der US-amerikanischen Beaufort-Küste im Vergleich zur kanadischen erklären die Wissenschaftler*innen damit, dass erstere niedriger und mehr in Richtung der meisten Stürme ausgerichtet ist.

Schon seit einigen Jahren gibt es klare Indizien dafür, dass sich die Arktis deutlich schneller erwärmt als bislang gedacht. Berechnungen, die der Klimaforscher Peter Jacob vom Goddard Space Flight Center der Nasa im Dezember 2021 auf einem Treffen der American Geophysical Union (AGU) vorstellte, untermauern dies. Er definiert die Arktis als Gebiete nördlich des Polarkreises bei 66,6 Grad nördlicher Breite, statt wie viele andere oberhalb von 60 Grad, und nimmt als Referenz das Jahr 1990 - den Zeitpunkt, ab dem die Temperaturen in der Arktis stark ansteigen. Danach erwärmt sich die Arktis im Vergleich zum Rest der Welt durchschnittlich viermal so schnell - nicht zweimal so schnell, wie bislang angenommen.

Laut einem »Science«-Artikel erhält Jacobs These in der Fachwelt Zuspruch. »Offensichtlich wurde der Effekt der arktischen Amplifikation vorher heruntergespielt«, meint Irrgang. Deren Hauptbestandteil ist der sogenannte Albedo-Effekt: Weil dunklere Oberflächen an Land und im Ozean deutlich mehr Energie aus der Sonnenstrahlung aufnehmen als die hellen Eis- und Schneeflächen, treiben sie ihrerseits den Klimawandel an.

Die Folgen der Küstenerosion für Mensch und Umwelt sind vielfältig. »Je mehr Ufer abgetragen wird, desto mehr Sedimente gelangen ins Wasser«, erklärt Irrgang. Damit verändern sich dort die Lichtverhältnisse. Auch werden mit den Sedimenten viele Nährstoffe ins Wasser eingetragen. Mit beidem kommen Fauna und Flora unterschiedlich gut zurecht. »Es gibt Arten, die können vieles ganz gut abpuffern, andere sind genau auf die Bedingungen spezialisiert, die seit Langem vorgeherrscht haben«, sagt die Forscherin. Allgemein gehe man in der Wissenschaft davon aus, dass mit fortschreitendem Klimawandel die Biodiversität im Arktischen Ozean abnehme.

Wenn sich Permafrostküsten destabilisieren und Teile davon ins Meer rutschen, wird auch der darin eingeschlossene Kohlenstoff freigesetzt. Ein Teil verflüchtigt sich als Kohlendioxid oder Methan in die Atmosphäre und heizt damit seinerseits das Klima an. Der Rest gelangt in den Ozean und trägt zu seiner weiteren Versauerung bei. Expert*innen schätzen den Eintrag auf etwa 14 Millionen Megatonnen im Jahr - mehr als das, was die riesigen arktischen Flüsse ins Meer tragen.

Mit der Erosion werden aber auch Schadstoffe wie Quecksilber aus den Böden der Küsten frei und gelangen in die Luft und ins Meer. Arktische Küstenstädte sind ebenfalls eine Quelle von Schadstoffen. Da es zu teuer sei, deren Müll abzutransportieren, werde dieser vor Ort gelagert, berichtet Irrgang. Durch Stürme könne er in die Umwelt gelangen. Auch Industrieanlagen wie die größten Ölfelder der USA, die Prudhoe Bay Oilfields in Alaska, liegen nahe der Küste und sind durch Stürme ebenso gefährdet wie Häuser und Straßen. Laut Irrgang schreiten die Veränderungen durch die Erderwärmung vielfach so schnell voran, dass sich manche küstennahen Infrastrukturen nicht rechtzeitig landeinwärts verlegen lassen, ehe Wasser sie über- oder unterspült. Mancherorts fehle es zudem an Geld oder Möglichkeiten, Infrastruktur vor Küstenerosion effektiv zu schützen.

Die fortschreitende Klimaerwärmung gefährdet an den arktischen Küsten auch die traditionelle Lebensweise indigener Völker. Kultstätten werden zerstört, Jagdgebiete gehen verloren. Bereits seit einigen Jahren arbeiten Forscher*innen in der Arktis verstärkt mit der lokalen Bevölkerung zusammen, um die Folgen des Klimawandels in Gänze besser zu verstehen. Arktisweite Beobachtungen von Umweltfaktoren und Küstenveränderungen sind dringend nötig, um sicherere Prognosen stellen zu können und basierend darauf, mit den gefährdeten Gemeinden Handlungsstrategien für ihre Anpassung zu erarbeiten.

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