- Politik
- Pandemiepolitik
Acht Impfdosen je Einwohner
Bundesregierung kann Diskrepanzen zwischen gekauften oder bestellten Vakzinen und deren vollständigem Verbleib nicht erklären
Mitte Dezember hatte Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) sich den Überblick verschafft, wie viele Impfdosen gegen Sars-CoV-2 denn überhaupt vorrätig oder bestellt sind. Die Untersuchung ergab vor sechs Wochen einen Mangel an Corona-Impfstoffen für das neue Jahr. 92 Millionen Dosen sollten nachgekauft werden. Dafür wurden auch prompt vom Haushaltsausschuss des Bundestages Mittel in Höhe von insgesamt 2,2 Milliarden Euro freigegeben.
Zur Erinnerung: Die Warnung vor zu wenig Impfdosen erfolgte mitten in der mit Hochdruck laufenden Boosterkampagne, also der dritten oder Auffrischungsimpfung. Das Scharmützel um zu wenige oder zu wenig bestellte Impfdosen sah zunächst nach Abgrenzungsversuchen zwischen alter und neuer Bundesregierung bzw. zwischen deren Gesundheitsministern aus.
Der im Spätherbst noch amtierende Minister Jens Spahn (CDU) hatte im November eine Rationierung des Biontech-Vakzins auf 30 Impfdosen pro Woche und Arztpraxis angekündigt; alternativ könne nur das Moderna-Produkt bestellt werden. Das verwunderte damals nicht wenige, erinnert man sich an die horrenden Zahlen angeblich für Deutschland »gesicherter« Impfdosen.
Die neue Bundesregierung sprach zum Jahreswechsel für die Jahre 2021 bis 2023 von bis zu 663,9 Millionen bestellten Impfdosen im Wert von insgesamt 12,5 Milliarden Euro. »Das wären pro Kopf der Bevölkerung, vom Baby bis zum Greis, fast acht Dosen Corona-Impfstoff, mit einem Durchschnittspreis von 18,80 Euro«, hat Kathrin Vogler nachgerechnet. Die gesundheitspolitische Sprecherin der Fraktion Die Linke hatte mit anderen Abgeordneten der Partei und im Namen der Fraktion im Dezember eine Kleine Anfrage an die Bundesregierung gestellt. Damit sollte ein Überblick über Bestellungen, Lieferungen und Kosten der Vakzine gewonnen werden. Die Antwort liegt dem »nd« vor.
Laut dem RKI-Impfdashboard, auf das sich auch die Bundesregierung in ihrer Antwort auf die Linke-Anfrage bezieht, wurden von Dezember 2020 bis in den Januar 2022 hinein nur etwa 179,6 Millionen Dosen ausgeliefert. Verimpft wurden davon 160,4 Millionen Dosen, also knapp 90 Prozent. 95,4 Millionen Dosen wurden an die Covax-Initiative für Länder des globalen Südens übertragen, weitere 7,5 Millionen an andere Länder bilateral verschenkt. Verkauft wurden Impstoffe laut Auskunft der Bundesregierung nicht. Auch alle Abnahmeverpflichtungen seien eingehalten worden.
Unklar bleibt unter dem Strich, wo die Differenz von 380 Millionen Dosen abgeblieben ist – oder wofür sie bei Lieferung verwendet werden sollen. Aber selbst wenn nur die bis Mitte Januar 2022 ausgelieferten und verimpften Dosen betrachtet werden, bleibt eine Differenz von 19,2 Millionen Impfdosen im Wert von 361 Millionen Euro, die sich in Luft aufgelöst haben. Eine wenn auch unwahrscheinliche Möglichkeit für den Verbleib wäre, dass die Impfstoffe vor Ort verworfen werden mussten – was zentral nicht erfasst wird. Allein die absolute Zahl von fast 20 Millionen Dosen scheint dafür zu hoch.
Aus den Zahlen ergibt sich aber auch, dass grob 360 Millionen Dosen noch geliefert werden müssten. Wenn das 2022 oder auch erst 2023 passieren würde, ergibt sich ebenfalls die Frage, was damit dann zu tun ist. Kommen die Vakzine wirklich noch, müsste der größte Teil schnellstens international verteilt werden, wobei natürlich über deren Verfallsdatum nichts bekannt ist. Schon eingetreten sein kann aber der Fall, dass diese Impfstoffe, gegen den Wildtyp des Virus entwickelt, schon bald moralisch verfallen, also nicht mehr sinnvoll einsetzbar sind.
So deutet sich an, dass auch der Ausweg einer generösen Spende bald Makulatur sein könnte, wenn er denn tatsächlich gebraucht würde. Oder ist ein größerer Teil dieser Dosen schon gegen neuere Mutanten gerichtet? Auch dann wäre die Zahl zu hoch, weil damit jeder einzelne Bundesbürger weitere viermal geimpft werden könnte.
Das Unwissen des Gesundheitsministeriums auch unter neuer Leitung (oder auch die fehlende Bereitschaft zur Aufklärung) kann Linke-Politikerin Vogler nur als Skandal werten: »Das ist es auch vor dem Hintergrund, dass das Entstehen der Omikron-Variante seine Wurzel vor allem in der global ungerechten Verteilung von Impstoffen hat. Die reichen Länder, unter ihnen Deutschland, leisten sich Verschwendung und Verderb wertvoller Impfstoffe, während in den Ländern Afrikas gravierender Impstoffmangel fortbesteht.«
Vogler kritisiert zudem die Weigerung der Ampel-Koalition, Patente unter anderem auf Impfstoffe freizugeben, als besonders kurzfristig: »Solange die Produktionskapazitäten der Pharmaunternehmen vor allem für die Versorgung der zahlungskräftigen Industrieländer genutzt werden, die dann noch nicht einmal sorgsam mit dem knappen Gut umgehen, riskieren wir global eine neue Virusvariante nach der anderen, welche die Immunantwort von Geimpften und Genesenen umgehen kann.« Auch mit einer nationalen Impfpflicht werde man sich nicht von diesem Prozess abkoppeln können.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.