Ein Gegenmodell zum Kapitalismus

Sozial, ökologisch, feministisch - das Kreuzberger Frauenzentrum Schokofabrik gilt als Beispiel für alternatives Wirtschaften

  • Louisa Theresa Braun
  • Lesedauer: 7 Min.
Renovieren und Möbel selbst bauen ist auch eine Form der Selbstermächtigung.
Renovieren und Möbel selbst bauen ist auch eine Form der Selbstermächtigung.

Eine Frau hockt auf dem Boden und hämmert einen Nagel ins Holz. Drei Frauen arbeiten in der Werkstatt konzentriert an einer Holzwerkbank. Drei weitere in Latzhosen und Jeans sind in schwindelerregender Höhe auf dem Dach zu sehen, das sie mit neuen Ziegeln decken. Die 40 Jahre alten Fotos zeigen, wie Frauen der autonomen Frauen- und Lesbenbewegung nach der Besetzung der früheren Schokoladenfabrik in der Kreuzberger Mariannenstraße das Gebäude 1981 in Eigenregie sanierten.

Pioniere alternativer Wirtschaft in Berlin

Die IÖW-Studie über alternatives Wirtschaften konzentriert sich auf Berlin, da die Hauptstadt eine lange und ausgeprägte Tradition der sogenannten Alternativökonomie aufweise.

»In den 1970er Jahren dienten die alternativwirtschaftlichen Initiativen und Betriebe beispielsweise dazu, der Alternativbewegung eine wirtschaftliche Grundlage für ihren politischen Aktivismus bereitzustellen«, heißt es.

Beispiele sind (Frauen-)Kollektiv-Betriebe wie der Kreuzberger Bioladen Kraut und Rüben, die Kinderläden oder die genossenschaftlich organisierte Tageszeitung »Taz«.

Auch in den vergangenen Jahren wurde Berlin von entsprechenden Unternehmensgründungen geprägt. Vorgestellt werden Schnittstelle (Lebensmittelladen-Kollektiv), Hacke und Hobel (handwerklicher Kollektiv-Betrieb), Ecosia (Suchmaschine) und Circles (demokratisches Online-Währungssystem).

Sie gelten als »alternativ«, weil sie andere Wirtschaftspraktiken mit höheren sozialen und ökologischen Ansprüchen entwickeln. Zum Beispiel solidarische Beziehungen zu regionalen Erzeuger*innen statt intransparenter globaler Lieferketten, demokratische Teilhabe am Betrieb statt hierarchischen Managements oder auch Spenden für soziale Zwecke statt Gewinnerwirtschaftung als Unternehmensziel. So würden neue Standards gesetzt.

Berlin habe dadurch großes Potenzial für einen sozial-ökologischen Wandel. Es brauche jedoch mehr Finanzierungsmöglichkeiten und Räume. Hier seien einerseits solidarische Netzwerke, andererseits die Politik gefragt. ltb

Auch das Dach der ehemaligen Schokoladenfabrik musste nach der Besetzung neu gedeckt werden.
Auch das Dach der ehemaligen Schokoladenfabrik musste nach der Besetzung neu gedeckt werden.

»Bei uns können Frauen alles machen: schwere Holzmaschinen bedienen bis hin zu Strukturen mitgestalten. Die patriarchale Haltung, dass es Grenzen für Frauen gibt, ist hier außer Kraft gesetzt«, sagt Christine Rudolf, geschäftsführende Vorständin der Genossinnenschaft Schokofabrik. Heute ist die Schokofabrik mit 1200 Quadratmetern auf sechs Etagen in Mariannen- und Naunynstraße nicht nur das flächenmäßig größte Frauenzentrum Europas, sondern gilt auch als Beispiel für alternatives Wirtschaften.

Laut der Studie »Anders wirtschaften in Berlin« des Instituts für ökologische Wirtschaftsforschung (IÖW) von November 2021 ist die Schokofabrik exemplarisch für Unternehmen, die sich in der Hauptstadt für eine nachhaltige, solidarische und demokratische Wirtschaft und Gesellschaft einsetzen. Anliegen der Studie ist es, die gesellschaftliche Relevanz solcher Projekte, auch im Sinne eines sozial-ökologischen Wandels, abzubilden. Deren Ziel sei es, anders als bei den meisten gewinnorientierten Unternehmen, »dass weniger Ressourcen ausgebeutet werden, die Fairness zwischen verschiedenen Wirtschaftsparteien gefördert wird oder die Bedürfnisse der beteiligten Menschen respektiert werden«, sagt Christian Lautermann, Ökonom und einer der Studienautor*innen.

Räume für hierarchiefreie Arbeit

Die Schokofabrik - auch einfach »Schoko« genannt - schaffe das vor allem durch die Bereitstellung von Räumen und Angeboten für ausgegrenzte und diskriminierte Gruppen. »In den 80er Jahren wollte die Frauenbewegung Räume für Frauen und Lesben schaffen, um sich unabhängig von männlichen Strukturen entwickeln und antihierarchisch miteinander arbeiten zu können«, sagt Anke Peterssen, Sozialarbeiterin und Mitglied im Vereinsvorstand des Frauenzentrums. Heute sind auch Trans-, Inter- und queere Menschen eingeschlossen.

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Es gehe dabei vor allem um Hilfe zur Selbsthilfe und Selbstorganisation auf ganz unterschiedlichen Ebenen: So lernen Frauen in der Holzwerkstatt, eigenständig zu renovieren und Möbel zu bauen, und in Sport- und Selbstverteidigungskursen, »dass sie Nein sagen können«, erklärt Peterssen. Seit 1986 gibt es die Kita Schokokids (früher Schokoschnuten), um Frauen Erwerbsarbeit zu ermöglichen. Und im ersten Stock befindet sich ein Seminarraum, der von verschiedenen Gruppen kostenlos genutzt werden kann. Eine Etage höher ist der Treffpunkt für Frauen und Mädchen, die nicht weiß oder geflüchtet sind oder eine Migrationsgeschichte haben. In den 80er Jahren waren das vor allem Türkinnen aus der Kreuzberger Nachbarschaft; seit 2015 kommen auch viele Asylbewerberinnen. Hier können sie Deutsch- und Nachhilfekurse, Sozial-, Rechts- und Bildungsberatung sowie Freizeitangebote in Anspruch nehmen. »Die Schokofabrik ist ein Ort, an dem viel tolle Arbeit stattfindet und wo die Menschen gerne bleiben«, sagt Sare, die hier arbeitet.

Ein weiterer Ort, der schon 1986 geschaffen wurde, um vor allem Frauen mit türkischem Hintergrund einen Raum für ungestörte Treffen zu bieten, ist das Hamam-Bad im Keller der Schoko: ein Wellnessbereich mit türkischem Bad, Sauna, Massage- und Kosmetikangeboten. Es ist der einzige Teil des Vereins Schokoladenfabrik, der Gewinne erwirtschaftet - und diese wiederum an den Verein spendet. »Das konventionelle Angebot einer Dienstleistung gegen Geld schafft dadurch Spielräume für andere, nicht kommerzielle Angebote und trägt somit indirekt zu einer größeren Unabhängigkeit von externen Fördermitteln oder Spenden bei«, heißt es in der IÖW-Studie.

Alternative Strukturen haben Wert an sich

Die Finanzierung ist demnach eine der Herausforderungen alternativen Wirtschaftens. Zwar will die Schokofabrik »ein Gegenmodell zu kapitalistischen Strukturen sein, aber entziehen können wir uns ihnen nicht«, bedauert Christine Rudolf. Das heißt: Auch die Schoko braucht Geld, etwa 100 Mitarbeiterinnen müssen bezahlt werden. Organisiert wird das durch die Kombination des Vereins Schokofabrik, der Fördergelder bezieht, mit der Eigentumsstruktur der Genossinnenschaft, die 2003 gegründet wurde und die beiden Häuser in der Mariannen- und der Naunynstraße ein Jahr später kaufte.

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Das Hamam-Bad im Keller der Schokofabrik
Das Hamam-Bad im Keller der Schokofabrik

Die Genossenschaft ist laut Christian Lautermann vom IÖW »die prädestinierte Unternehmensform« vieler alternativwirtschaftlicher Zwecke in Deutschland, weil sie auf Mitgliederförderung, Demokratieprinzip und Selbstorganisation beruhe. So sind im Aufsichtsrat der Genossinnenschaft Schokofabrik - hier können nur Frauen Mitglied werden - alle beteiligten Projekte vertreten und können auf sämtlichen Ebenen mitbestimmen. Das funktioniere zwar nicht immer konfliktfrei - »wir ringen um jede Entscheidung«, sagt Vorständin Anke Peterssen -, trotzdem sollten Hierarchien so weit wie möglich vermieden werden. Durch solche egalitären und emanzipatorischen Strukturen »haben alternative Organisationsformen in unserem Verständnis auch einen Wert an sich«, sagt Studienautor Lautermann.

Die Genossinnenschaft vermietet unter dem Dach des Frauenzentrums auch fünf Privatwohnungen. Dass alternativwirtschaftliche Organisationen auf Einnahmen durch Fördergelder oder eben Mieten angewiesen sind, nennt Lautermann einen »pragmatischen Kompromiss«, bei dem »Vorkehrungen getroffen werden müssen, um ein Abdriften in Richtung Kommerzialisierung oder Gewinnorientierung zu vermeiden«. Beispiel dafür ist die Szene sogenannter Social oder Green Start-ups, deren vermeintlicher Nachhaltigkeitsanspruch oft zu »Green Washing« und Ausbeutung führt, wie im Fall von Fahrrad-Lieferdiensten wie Gorillas.

Sichere Basis und faire Mieten

Bei der Schokofabrik bestehen diese Vorkehrungen in dem Anspruch, die Wohnungen benachteiligten Personen zur Verfügung zu stellen, unter anderem einer betreuten Mädchen-WG. »Wir wollen Frauen eine stabile und sichere Basis und faire Mieten bieten«, sagt Rudolf. Das Ziel sei nicht, Gewinn zu maximieren, sondern diskriminierungssensible Räume zu schaffen. Gerade in Berlin ist die Raumfrage inzwischen elementar, denn »heute ist die Stadt voll, es gibt nur noch ganz wenige Freiräume«, sagt Anke Peterssen.

Die Schoko will aber auch ökologisch wirtschaften, »denn die Ausbeutung von Natur und die kapitalistisch-patriarchale Verwertungslogik haben miteinander zu tun, und wir wollen für beides Lösungen finden«, sagt Geschäftsführerin Christine Rudolf. So produziert das Frauenzentrum eigenen Strom und Wärme mit Hilfe eines Blockheizkraftwerks, durch das jährlich etwa 100 Tonnen CO2 eingespart werden. Als Nächstes soll das Dach gedämmt und mit einer Solaranlage versehen werden, damit »wir langfristig energieautark werden«, ergänzt Vorständin Anke Peterssen.

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Für einen sozial-ökologischen Wandel müsste es in Berlin natürlich noch viel mehr solcher Initiativen geben. Doch »im Kleinen zu beginnen, heißt nicht, dass die Wirkung nicht groß sein kann«, betont Forscher Christian Lautermann. Das Ziel sei keine komplett alternativ wirtschaftende Hauptstadt, sondern vielmehr »ein Berlin, das im Einklang mit den sozialen Kapazitäten und den ökologischen Grenzen wirtschaftet«, erklärt er. Es gehe beim alternativen Wirtschaften nicht um Marktmacht, sondern darum, an immer mehr Orten funktionierende Alternativen zu erproben. In der Regel würden alternative Wirtschaftsakteure dezentral, regional und so autark wie möglich agieren, sich jedoch überregional vernetzen und beeinflussen, um so in die Breite zu wirken.

Plenum in der Schokofabrik im Jahr 2000
Plenum in der Schokofabrik im Jahr 2000

So will auch die Schokofabrik andere Menschen und Projekte in Berlin inspirieren. »Weiblich konnotierte Eigenschaften wie Empathie und ein anderer Umgang mit Macht müssen sich viel weiter verbreiten«, findet Anke Peterssen. Eine nicht kapitalistische Hauptstadt »wäre viel lebenswerter. Aber wir schaffen es nicht, die Gesellschaft komplett aus den Angeln zu heben«, ergänzt Christine Rudolf. Zumindest gehe sie nicht davon aus, dass sie das erleben werde. Dennoch ist sie optimistisch: »Berlin ist eine Stadt, in der sich viele auf den Weg machen, ökologische Veränderung herbeizuführen«, sagt sie.

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