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Der kreative Konsument
Der blinde Fleck der Poptheorie: Tobi Müller widmet sein Buch der Technologie hinter der Musik
»Aber ohne seine Geräte kann man Pop nicht verstehen.« Das ist die völlig richtige Grundannahme von Tobi Müllers Buch »Play, Pause, Repeat«. Geräte? Natürlich! Der Kassettenrekorder, der Kopfhörer, der Walkman, der iPod, aber auch Synthesizer und Drumcomputer. Technik, Kapitalismus und Pop, erklärt Müller, seien untrennbar miteinander verbunden. »Play, Pause, Repeat« erzählt die Geschichte der großen Individualisierung und Demokratisierung des Popkonsums durch Technik. Bisher ein blinder Fleck der Poptheorie.
Popgeschichte war und ist immer noch viel zu oft die Geschichte der einflussreichen Genies. Die Beatles, die Bluescoverband Rolling Stones, Bob Dylan oder David Bowie. Individuen, die laut dieser Erzählung einzigartige Musik hervorbrachten, die aufgrund ihrer Genialität erfolgreich und einflussreich wurde. Mit den Kultur- und Konsumforschern der britischen Cultural Studies ging der Fokus vom Star zum Konsumenten über.
Soziologen wie Lawrence Grossberg, Stuart Hall oder Simon Frith untersuchten den subversiven Gebrauch, den Jugendliche von Popmusik machten. Der Medienwissenschaftler Ole Petras entwickelte ein weitergehendes Untersuchungssystem. Neben den künstlerischen Aspekten wie Komposition, Recording und grafischer Gestaltung von Tonträgern bezog er in seine Theorie nicht nur die Rezeption mit ein, sondern auch Public Relations und Distribution der Tonträger. Bodo Mrozek trägt dem in seinem Grundlagenwerk »Jugend Pop Kultur« Rechnung und definiert Pop als »einen mit zeithistorischen Prozessen eng verschränkten Kernbereich der Geschichte - verbunden mit Wirtschafts-, Konsum- oder der Protestgeschichte«. Auf dem Forschungsgebiet Pop lasse sich die Entstehung von Körpertechniken, neuen Politiken und Identitätskonzeptionen nachvollziehen. Die Technik, die hinter alledem steht, wird in all diesen Theorien höchstens gestreift.
Bei Tobi Müller ist all das präsent. Er stellt die Geräte in den Mittelpunkt. Technik ist für ihn nicht nur Ausdruck gesellschaftlicher Entwicklungen, sondern auch ihr Autor. »Technologie ist nie nur Hilfsmittel im Pop, sondern selbst wichtiges Instrument«, schreibt Müller. Und seine Erzählung findet die richtige Mischung aus Technik- und Popgeschichte, Soziologie, aber vor allem: persönliche Erfahrung. Denn Pop ist die Serienkultur, die persönliche Erfahrung erzeugt. »Pop«, schreiben die Wissenschaftler Niels Penke und Matthias Schaffrick, »ist mehr als Kunst, nämlich Teil des Lebens.« Pop verkaufe nicht Musik, sondern einen Lebensstil.
So beginnt Müller mit seiner Kindheit in den 70er Jahren und seiner ersten Erfahrung mit einem Kassettenrekorder. Sein Bruder nimmt ihn heimlich auf, wie er bei den Beatles mitsingt. Von dieser Situation ausgehend, entwickelt er eine Theorie der Aufnahme und ihrer Möglichkeit, Stimmen nicht nur zu konservieren, sondern auch zu bearbeiten. Auch die Geschichte der Lautstärke von Konzerten beginnt mit den Beatles, die mit einem f100-Watt-Verstärker im Kreischen der Fans untergingen. Es war ausgerechnet die eher leise Band Grateful Dead, die erstmals mit überwältigend lauten Verstärkern spielt. »Lautstärke ist unabdingbar für ein immersives Poperlebnis«, schreibt Müller. »Wenn sogar die inneren Organe vibrieren, wird der Fan selbst zum Resonanzkörper.«
Es folgt der Kopfhörer, der wieder ein ganz anderes Hörerlebnis möglich macht. »Die Komplexität der Welt erscheint im Wohnzimmer erträglicher, die Musik wattiert die innere Unruhe.« Und mit dem Kopfhörer löst sich die uniforme Masse der Popfans auf. Das Musikerlebnis wird individualisiert. Müller zitiert den Musikjournalisten Lester Bangs: Es fängt die Ära des Solipsismus an. Zugleich beginnt mit Punk und Disco eine Phase, in der Popmusik sich demokratisiert. »In beiden Bewegungen sind die Konsumierenden tendenziell auch die Produzierenden.« Gemeint ist das Styling im Punk und der Tanz bei Disco.
Der nächste Schritt ist der Walkman. »Wer einen Walkman trägt, schreitet anders durch die Stadt - eigensinniger, autonomer, individueller.« Die Verbindung von Pop und Identität wird noch enger. »Für junge Menschen hat der Walkman somit einen ermächtigenden Effekt: Ich bin Autor, Autorin dessen, was ich sehe, ich bestimme, wie sich dieser Raum anfühlt, und ich bewege mich autonom darin.« Der Typ des »urban nomad« entsteht. Und der hört seine selbst zusammengestellten Mixtapes, weil die Kassettendecks das inzwischen leisten können. Müller sieht in den Mixtapes »eine Form der Stimmungsregulierung«. Der Walkman kombiniert melancholisches Insichgekehrtsein und Mobilität. Popmusik kann Ängste nur vage ansprechen, aber »der Konsum in personalisierten Hörsituationen, gerade dem Walkman, öffnet jede Interpretation für individuelle Bedürfnisse«. Und auch hier wird der Popkonsument zum Kreativen.
Mit Kabelfernsehen kommt MTV in die Haushalte und damit eine weitere Dimension des Pop: das Video. Billige japanische Synthesizer, der Sampler führen schließlich direkt zu »Faceless Techno«. Produzenten und Konsumenten verschmelzen im Tanz.
Mit dem Aufkommen der Streamingplattformen verliert Pop an Bedeutung. »Niemand braucht mehr Pop, um Gemeinschaft herzustellen. Dazu sind nun soziale Medien da. Pop wird zur reinen Geschmacksfrage.« Und zum Trainingspartner beim Joggen. Von dem Standpunkt aus interpretiert Müller die Retromusik der vergangenen 25 Jahre neu. »Retrostars führen damit eine Alternative auf zur zeittypischen Tendenz, die Städte und die Körper stärker zu regulieren.« Je stärker die Digitalisierung in den Alltag eindringt, desto merkwürdigere Moden scheinen sich ihr entgegenzustemmen. Müller führt den Pseudogeländewagen SUV an, die Funktionskleidung, die auch in Großstädten getragen wird. Zugleich führen die Streamingdienste zu einer Verarmung der Kreativität im Pop. Große Stars werden noch größere Stars, unbekannte Musiker haben kaum noch Chancen. Die Empfehlungsalgorithmen verstärken, worüber viele reden. »Hits bleiben Hits, der Rest strauchelt.« Die digitale Individualisierung mit Streaming-Playlists hat Pop entpolitisiert. Aber Müller hat Hoffnung: »Vielleicht ist das nächste Gerät, das uns Pop wieder näher bringt: Kein Gerät. Die nächste Technologie: Keine Technologie.« Vielleicht liegt die Zukunft des Pop in kleinen, lokalen Konzerten.
In den Talentshows, meint Müller, mutiert Pop zur Aufführungskunst, bei der eine glaubwürdige Performance und Virtuosität im Mittelpunkt steht. Und neoliberale Werte wie Flexibilität und Leistungsbereitschaft. Aber vor allem geht es um »menschliche« Qualitäten jenseits von Autotune.
Tobi Müllers Buch ist kein Poptheoriewälzer, sondern spannend und gut geschrieben. Ihm gelingt es, komplexe Botschaften anschaulich zu vermitteln.
Tobi Müller: Play Pause repeat. Was Pop und seine Geräte über uns erzählen. Hanser Berlin, 240 S., geb., 23 €.
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