Hungerrevolten ante portas

Die Welternährungsorganisation vermeldet besorgniserregendes Niveau des Lebensmittelpreisindexes

Die Warnung steht im Raum: Der Lebensmittelindex der Welternährungsorganisation FAO hat ein Niveau erreicht wie seit 2011 nicht mehr - dem Jahr des Arabischen Frühlings. Der Index erfasst die monatlichen Veränderungen der internationalen Preise für häufig gehandelte Nahrungsmittel. Ob pflanzliche Öle, Getreide, Milch oder Fleisch - die Preise sind weiter im Anstieg begriffen. Einzig der Zuckerpreisindex verzeichnete einen Rückgang, vermeldete die FAO am 3. Februar. Insgesamt verzeichnete der Lebensmittelindex ein Plus von sage und schreibe 28,1 Prozent gegenüber dem Vorjahr.

Steigende Nahrungsmittelpreise bergen immer sozialen Sprengstoff. 2008 machten die Hungerrevolten von Haiti bis Ägypten Schlagzeilen. In 40 Ländern des Globalen Südens kam es damals zu »Food Riots«, die Dutzende Menschen das Leben kosteten. Sie hatten gegen steigende Grundnahrungsmittelpreise demonstriert. Brot- und Benzinpreise sind sozial sensible Preise. Der Benzinpreis trifft über die Fahrpreise die Allerärmsten direkt und über steigende Nahrungsmittelpreise wegen höherer Transportkosten indirekt und weit mehr als die Autofahrer, die dort zu den Bessergestellten gehören.

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Nach den Hungerrevolten 2008 katapultierte die Finanzkrise die Zahl der Hungernden 2009 zeitweise gar über die Milliardenschwelle. »Mehr Menschen müssen künftig hungern, weil sich die Banker verspekuliert haben«, hatte der Entwicklungsexperte Dirk Messner direkt nach der Finanzkrise prognostiziert und Recht behalten. Messner setzt sich inzwischen als Präsident des Bundesumweltamtes für nachhaltige Entwicklung ein.

Großen Wert auf nachhaltige Finanzen legt der Internationale Währungsfonds (IWF). Deswegen fordert er regelmäßig als Auflage bei Krediten Einsparungen im Staatshaushalt und oft auch direkt oder indirekt die Streichung von Subventionen sei es für Treibstoff oder Getreide. Dabei kennt der IWF den Zusammenhang zwischen hohen Lebensmittelpreisen und Instabilität aus dem Effeff.

Eine IWF-Studie aus dem Jahr 2011 untersuchte den Zusammenhang zwischen der Inflation der Lebensmittelpreise und regierungsfeindlichen Demonstrationen in 120 Ländern zwischen 1970 und 2007. Demnach führte ein Anstieg der Lebensmittelpreise um zehn Prozent zu einer Zunahme von 100 Prozent bei regierungsfeindlichen Protesten. Dabei handelte es sich um Länder mit niedrigem Pro-Kopf-Einkommen, in denen Lebensmittel einen hohen Anteil an den privaten Ausgaben ausmachen. Kurz: Brotaufstände, die auch am Beginn der jüngsten sudanesischen Revolution standen, die 2019 zum Sturz des Langzeitherrschers Omar al-Baschir führte. Zuvor hatte die Regierung die Zuschüsse für Weizen und Benzin gekürzt, was dazu führte, dass sich der Brotpreis verdreifachte. Viele Sudanesen gaben fast die Hälfte ihres Gehalts für Brot aus.

Die Lage der Welternährung ist ernst, der neue Lebensmittelpreisindex der FAO nur ein Indiz mehr. Schon im November 2021 vermeldete die FAO, dass ungefähr drei Milliarden Menschen, fast 40 Prozent der Weltbevölkerung, sich eine gesunde Ernährung nicht leisten können. Eine weitere Milliarde Menschen könnten sich ihnen anschließen, sollten weitere unvorhersehbare Ereignisse Einkommen reduzieren, so die FAO. Unvorhersehbare Ereignisse wie die Covid-Pandemie.

Es gibt viele Gründe für die steigenden Nahrungsmittelpreise, die Covid-Pandemie ist einer davon, ein anderer ist ein starker Anstieg der Düngemittelpreise infolge gestiegener Energiepreise. Das habe die Kosten für die Betriebsmittel, auf die die Landwirtschaft zur Lebensmittelproduktion setzt, in die Höhe getrieben, erklärte Abdolreza Abbassian, Leitender Ökonom der FAO, bei der Vorstellung des Lebensmittelpreisindexes. »Während normalerweise erwartet wird, dass die hohen Preise einer erhöhten Produktion weichen werden, lassen die hohen Kosten für Betriebsmittel, die anhaltende globale Pandemie und die immer unsichereren klimatischen Bedingungen wenig Raum für Optimismus hinsichtlich einer Rückkehr zu stabileren Marktbedingungen, selbst im Jahr 2022.«

Alle konjunkturellen Einflüsse wie Covid oder hohe Düngemittelpreise können freilich nicht verdecken, dass die strukturellen Ursachen von Unterernährung seit Jahren nicht angegangen werden. Die Zahl der Hungernden steigt seit sechs Jahren an, wenngleich im Corona-Jahr 2020 besonders stark um mindestens 120 Millionen Menschen, wie der UN-Welternährungsbericht 2021 feststellte. Weltweit hungern nun 811 Millionen und somit rund jeder zehnte Erdenbürger.

Die dramatische Situation bewegte die UN im Herbst 2021 zu einem außerplanmäßigen Welternährungsgipfel. Doch die Chance, dort die Weichen passend zu stellen, wurde laut Lena Bassermann, Referentin für Welternährung und globale Landwirtschaft bei Inkota, verpasst: »Die dringend erforderliche grundlegende Wende hin zu einer agrarökologischen, ressourcenschonenden Produktionsweise, die vielfältige Nahrungsmittel für alle Menschen produziert und eine gesunde Ernährungsweise fördert sowie die Dominanz von Konzerninteressen zurückdrängt, wurde bei dem Gipfel erst gar nicht angegangen. Zentrale Themen wie die Folgen der Covid-Pandemie, Regulierungen, steigende Nahrungsmittelpreise standen nicht auf der Agenda.« Dabei habe der Weltagrarrat diese Wende schon 2008 angemahnt, kritisiert Bassermann. »Aktuell sehen wir, wie die Preise für Stickstoffdünger im vergangenen Jahr um das Dreifache gestiegen sind - mit fatalen Folgen für Kleinbäuerinnen und Kleinbauern im Globalen Süden. Es ist dringend notwendig, Abhängigkeiten aufzulösen und die Transformation zu einem nachhaltigen und sozial gerechten Ernährungssystem politisch zu unterstützen«, sagte sie dem »nd«.

Worüber die FAO bei ihren Verkündungen der Lebensmittelindizes regelmäßig schweigt: Die Agrarlobby hat kein Interesse an einer Reform - weder im Norden noch im Süden. Solange sie sich weiter durchsetzt, geht der Hunger in der Welt weiter und, so die Kraft reicht, die Hungerrevolten.

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