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Verweile doch, du bist so still
Theodor Lessing kämpfte gegen das moderne Ärgernis des Lärms
Der Mensch lärmt, sobald er existiert. Kaum ist er geboren, brüllt er sich die Seele aus dem Leibe. Einmal aufgewachsen, nimmt sich der »zivilisierte Mensch« Maschinen und Gerätschaften zur Hilfe, um seinen Lärmausstoß wo möglich zu vervielfachen und zu vervielfältigen. Doch gleichzeitig mit der ansteigenden Fähigkeit zur Lärmerzeugung beschert die Kultur dem Menschen ein verfeinertes Gehör. Um diesem Missverhältnis abzuhelfen, gründete der am 8. Februar 1872 geborene Philosoph Theodor Lessing bereits vor über 100 Jahren im Interesse nervengeplagter Großstadtmenschen einen »Anti-Lärm-Verein« mit seinem Zentralorgan, dem »Antirüpel«.
Als Philosoph und Psychologe erkannte Lessing freilich, dass »dies entsetzliche Randalieren, dies unaufhörliche Brüllen, Dröhnen, Pfeifen, Zischen, Fauchen, Hämmern, Rammeln, Klopfen, Schrillen, Schreien und Toben, womit der Mensch seine Aktionen zu begleiten pflegt« nicht nur ein alltägliches, ja allgegenwärtiges Ärgernis ist, sondern ein tiefes menschliches Bedürfnis, gar einen »Urtrieb« darstellt. Der Lärm sei nur eine der vielen Äußerungsformen des menschlichen Drangs nach Traum- und Rauschzuständen, nach »Bewusstseinsnarkose«, in dieser Hinsicht Alkohol, Drogen, Musik, Tanz und Spiel verwandt. Nicht umsonst zieht es den Menschen dorthin, wo es »laut und lustig« zugeht. Im Lärm erkennt Lessing auch die Notwehr des Volkes gegen die Herrschaft des Geistes: »Er ist ursprünglich nur verfeinertes Faustrecht und die Rache, die der mit den Händen arbeitende Teil der Gesellschaft an dem mit dem Kopfe arbeitenden nimmt, dafür dass der ihm Gesetze gibt.«
Doch bei aller Dialektik ergreift Lessing Partei für die (wenigstens temporäre) Stille. Seine Kronzeugen sind Generationen von Geistesmenschen, die durch die Geräusche ihrer Umwelt schier in den Wahnsinn getrieben wurden: Schopenhauer verzweifelte am Peitschenknallen, Goethe kaufte aus Angst vor Baulärm ein benachbartes Grundstück auf, Thomas Carlyle raubten krähende Hähne den Schlaf, und Kant beklagte, dass der Musik »ein gewisser Mangel an Urbanität« anhänge, indem sie »ihren Einfluss weiter, als man ihn verlangt (auf die Nachbarschaft), ausbreitet«. Solange der Mensch noch lärmt, ist Kultur nicht vollendet, denn das Schreien ist Begleitmusik des Mangels und des Wunsches, der anzustrebende Zustand hingegen der ruhig wissenden Glücks. Hier schon verweist Lessing auf die Ideale der östlichen Philosophie, der seine Sympathie gilt. Doch auf dem Weg dorthin muss noch weiter gelärmt werden, denn »kein Unglück wird schweigend, kein Kampf in Stille durchkämpft; es muss alles an die Glocke!« Und das galt auch für den Antilärmverein selbst, der seinen Zweck nicht anders als mit gehörigem publizistischen Lärm verfechten konnte.
Lessings Texte zum Lärm - philosophische Darstellungen ebenso wie Artikel und Briefwechsel mit Lesern aus dem »Antirüpel« - lassen sich nun nebst zahlreichen anderen aus den Jahren 1908/09 in dem kürzlich unter dem Titel »Kultur und Nerven« erschienenen zweiten Band der Werkausgabe auf über 900 Seiten nachlesen (ergänzt um 1000 Seiten Kommentar des Herausgebers Rainer Marwedel, dem treuesten und fleißigsten Lessing-Forscher der Bundesrepublik). Man erkennt hier einen Denker, der stets mit rückhaltlosem Ernst schrieb, dem aber die unfreiwillige Komik menschlichen Treibens und Kämpfens nicht entging. In der Gewissheit, dass »der Lärmteufel, der mein Leben so oft zur Tortur gemacht hat, mir bis zum Tode treu bleiben wird«, formulierte er den bescheidenen Wunsch, dass an seinem Grabe »nicht etwa noch ein Böller abgeschossen wird«, und hoffte, die Evolution werde seinen Enkeln ein dem Verkehrslärm gewachsenes »Töff-Töff-Ohr und eine dazugehörige immune Benzinnase« bescheren.
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