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Ein Enfant terrible auf Seelenerkundungstrip
Der Theater- und Opernregisseur Hans Neuenfels ist am Sonntag im Alter von 80 Jahren gestorben
Nun verlassen sie uns eine nach dem anderen. Die großen Theater-Anarchos, die frühen Apologeten des Regietheaters und ersten Fixpunkte des Glaubens daran, dass das, was westdeutschen Kleinstadtjugendlichen der frühen 80er Jahre nur auf Turnhallenbühnen begegnete, die ganze Welt sein kann. Ja mehr noch: ein Instrument zur Selbsterkenntnis und ein gesellschaftspolitisches Korrektiv. Nicht einmal einen Monat nach dem begnadet grantelnden bayerischen Bühnen- und Filmpoeten Herbert Achternbusch ist nun Hans Neuenfels gegangen. Am Sonntag starb der in Krefeld geborene Regisseur im Alter von 80 Jahren, wie seine Familie über ihren Anwalt öffentlich machte.
Ende der 90er Jahre ist ihm die Autorin dieser Zeilen erstmals von Nahem begegnet. Da stand er plötzlich in einem Kinderladen in Berlin-Schöneberg - an der Seite seiner Frau, der Schauspielerin Elisabeth Trissenaar. Und wenn man nicht vor allem sie nach vielen Theaterabenden (und etlichen Fassbinder-Filmen) erkannt hätte, wäre da einfach ein Großelternpaar gewesen, das den Enkel aus der Kita abholt.
Erst im Dezember 2016 folgte die nächste Begegnung: ein Interview für die »Süddeutsche Zeitung« in München, an dessen Rand Hans Neuenfels von einem Anruf seines Enkels erzählt, was meine kleine Erinnerung wieder wachruft. Sein gesamter gedanklicher und emotionaler Fokus war zu diesem Zeitpunkt auf den Ort gerichtet, der ihm wie nichts sonst Zuflucht und Anker war: das Theater. Die eine Stelle in diesem Universum, an der man ungestraft dem Wahnsinn verfallen darf und - manchmal konnte er es selbst kaum glauben - sogar dafür bezahlt wurde.
Nach sehr vielen Opern inszenierte Neuenfels 2016 erstmals wieder Sprechtheater: Sophokles’ »Antigone« am Münchner Residenztheater. Kurz: Der Abend wurde nichts, war ungewöhnlich bildarm und opernhaft statisch und doch auch aus unergründlicher Quelle wütend - so, als wolle das einstige Enfant terrible des Regietheaters gegen die Altersmilde aninszenieren, die er in sich aufziehen sah.
Neuenfels war zuletzt enttäuscht vom Theater, dessen einstige Relevanz er vermisste und dessen Radikalität er als aufgesetzt empfand - mehr am Spektakel als am Inhalt interessiert und an der individuellen Handschrift der Regisseure, von der er behauptete, nie eine besessen zu haben. Stil hat ihn zeitlebens ebenso wenig interessiert wie »Werktreue« oder »Everybody’s Darling« zu sein. Dennoch - oder eben deshalb - konnte der dreifache Opernregisseur des Jahres 2016 den Faust-Preis für sein Lebenswerk entgegennehmen und sich schon 2011 eine umfangreiche Autobiografie - »Das Bastardbuch« - zum 70. Geburtstag schenken.
Und was hat er nicht alles erlebt und in Bewegung gesetzt, dieser unerwartet freundliche Schriftsteller, Filmautor, Regisseur und selbst ernannte »Suchtmensch« des Jahrgangs 1941, mit seiner charakteristisch knarzenden, stets um Genauigkeit im Ausdruck ringenden Stimme? Er ist von Schauspielern wie dem großen Bernhard Minetti geohrfeigt und von Kritikern und Intendanten beschimpft worden, er hat Gesangsstars in die Flucht geschlagen und sich gegen Dirigenten aufgelehnt, wenn ihre Musik die Stimmen der Sänger unter sich zu begraben drohte.
Er hat 1959 seinen ersten Gedichtband veröffentlicht und war als 20-Jähriger ein Jahr lang Sekretär des Malers Max Ernst in Paris, dessen surrealistische Bildwelten ihn auch begleiteten, als er am Max-Reinhardt-Seminar in Wien und später in Essen Schauspiel und Regie studierte.
Hans Neuenfels inszenierte im Theater am Naschmarkt in Wien, in Trier, Krefeld, Heidelberg und Stuttgart und forderte am liebsten die großen Dichter von William Shakespeare bis Frank Wedekind zum Kampf heraus. Über Heinrich von Kleist - dessen Sprache er über alles bewunderte - und Robert Musil drehte er später auch Filme.
In den 70er Jahren prägte Neuenfels zusammen mit Peter Palitzsch das Mitbestimmungsmodell am Schauspiel Frankfurt (wo 1980 seine legendäre »Iphigenie« entstand) und arbeitete mit Protagonisten wie Ulrich Wildgruber oder Klaus Maria Brandauer an Schauspielhäusern in Wien, Berlin und Hamburg. Als Opernregisseur kam er ebenfalls in Frankfurt am Main zur Blüte, wo 1981 seine »Aida« zum weit diskutierten Skandal wurde, weil er die königliche Titelfigur Böden schrubben ließ und dem Publikum seine Ähnlichkeit mit der ägyptischen Luxusgesellschaft spiegelte.
Nur als er von 1986 bis 1990 die Freie Volksbühne in West-Berlin leitete, wurde es um den Künstler Hans Neuenfels vorübergehend still. Verwaltungsaufgaben lagen dem Mann nicht, der sich als Junge aus gesundheitlichen Gründen vom Mathematikunterricht abzumelden versuchte. Skandale dafür umso mehr. Die aber nicht selten Kult wurden. So etwa sein »Idomeneo« an der Deutschen Oper Berlin, der mit den abgeschlagenen Köpfen von Buddha, Jesus und Mohammed Drohbriefe provozierte - oder sein Bayreuther »Lohengrin« von 2010, als Neuenfels Wagners Mittelalterdrama in ein Tierversuchslabor verpflanzte und einen Rattenchor aufmarschieren ließ.
Auf zarte Gefühle und Konventionen pfiff Neuenfels gerne, wenn er hoffen konnte, durch hartnäckiges Befragen der Stoffe ihren zentralen Konfliktherden und den Seelen der Figuren auf die Spur zu kommen - oder in seinen Worten: »dem Menschenwürdigen und nur dem Menschen Zugehörigen«.
In mehr als 70 seiner Inszenierungen stand ihm dabei auch auf der Bühne seine Frau zur Seite. »Die Trissenaar«, wie er sie auch selbst nannte, war sein »siamesischer Zwilling«, seine Nora, Medea und vieles mehr. Mit Hans Neuenfels stirbt mithin nicht nur einer der Väter des Regietheaters westdeutscher Prägung, sondern auch eine auf Streit und Vertrauen basierende künstlerische Arbeitsgemeinschaft, die ohne Beispiel ist. Er hinterlässt neben seiner Frau und Muse Elisabeth Trissenaar einen gemeinsamen Sohn, den Kameramann Benedict Neuenfels.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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