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Natalia Sinelnikova: »Alles für ein sicheres und gutes Leben«
Berlinale-Sektion Perspektive Deutsches Kino: Der Film »Wir könnten genauso gut tot sein« beleuchtet die Abgründe einer Hausgemeinschaft. Ein Gespräch mit Regisseurin Natalia Sinelnikova
Ihr Film spielt in einem Haus, das den Bewohner*innen Sicherheit und Ordnung garantieren soll. Hinter der Fassade aber schlummern Angst und Misstrauen. Was ist das für eine Gemeinschaft, die Sie dort zeigen?
Uns war es wichtig, eine Utopie zu entwerfen, die gar nicht so utopisch ist. Der Film spielt in einer Welt, in der es anscheinend sehr gefährlich ist und in der es dieses Haus gibt, in dem man unglaublich gerne leben will. Denn es heißt, dass es dort sicher sei. Aber dahinter verbirgt sich eine sehr fragile Gemeinschaft.
Ihre Hauptfigur Anna ist Sicherheitsbeauftragte des Hauses. Sie stammt vermutlich aus Osteuropa, ist Jüdin und lebt mit ihrer Tochter in der Gated Community. Was treibt sie an?
Ich habe eine Figur entworfen, die alles dafür tut, ein sicheres und gutes Leben für sich und ihre Tochter aufzubauen. Sie versucht, Teil der Utopie zu werden und mit dem Haus zu verschmelzen. Doch dann stellt sich heraus, dass die Gemeinschaft für sie und ihre Tochter vielleicht doch nicht so sicher ist, wie sie angenommen hat. Aber sie versucht bis zum letzten Moment daran festzuhalten, dass dieser Ort der richtige für sie ist.
Wovor haben die Menschen in dem Haus Angst?
Wir wollten erzählen, dass draußen eine Gefahr lauert, die sich aber nicht auf etwas Bestimmtes zurückführen lässt. Es geht um die Frage: Wohin projiziere ich meine Angst? Es kann sein, dass dieses Außen sehr gefährlich ist, aber innen ist es anscheinend auch nicht sicher. Wir spielen mit Thriller-Elementen und laden damit das Publikum dazu ein, gemeinsam mit der Hausgemeinschaft Angst zu haben. Ich finde es spannend zu zeigen, wie eine Verschwörungstheorie aufgebaut wird.
Gleichzeitig sezieren Sie mit trockenem Humor die deutsche »Willkommenskultur«. Wie haben Sie diesen Blick entwickelt?
Es war mir und meinem Co-Autor klar, dass das die einzige Form ist, in der wird diese Geschichte erzählen konnten. Schwarzer Humor ist für uns eine Strategie, mit Schmerz und Realität umzugehen. Der Film hat Elemente des Thrillers und des absurden Dramas, ist aber im Kern eine Sozialsatire. Ich persönlich empfinde es als große Stärke, dass er gleichzeitig witzig ist und wehtut - und dabei eine Geschichte erzählt, die uns alle angeht.
Als Sie sieben Jahre alt waren, sind Sie und Ihre Familie als »russisch-jüdische Kontingentflüchtlinge« nach Deutschland gekommen. Wie haben Sie Ihre neue Heimat damals erlebt?
Als wir emigriert sind, war Deutschland für uns das ideale Land. Es sollte uns alles bieten, was uns in Russland verwehrt worden ist: uns sicher zu fühlen und angenommen zu werden. Erst mal habe ich das auch so gesehen. Wir haben in einem Vorort gewohnt. Dort habe ich in die Fenster der Reihenhäuser geguckt, die Familien beobachtet und wollte so gerne dazugehören.Erst viel später wurde mir bewusst, wie viele Probleme hinter der Fassade liegen - und dass ich nicht so einfach angenommen werde. Es wird immer von einem »Wir« und »Ihr« gesprochen, und ich kann nicht so einfach Teil dieses »Wir« werden. Inzwischen weiß ich gar nicht mehr, ob ich das noch will oder ob ich dieses »Wir« lieber neu definieren möchte. Erst als Teenager habe ich angefangen zu verstehen, dass wir so sehr wollten, dass Deutschland das ideale Land ist, dass wir vieles nicht gesehen haben. Wir waren so damit beschäftigt, uns anzupassen, dass wir bestimmte Sachen nicht infrage gestellt haben.
Sie haben selbst in Hochhäusern gelebt. Haben Sie ähnliche Gemeinschaften erlebt wie in Ihrem Film?
Ich bin in Sankt Petersburg in einem Hochhaus aufgewachsen, in Berlin haben wir im Märkischen Viertel gewohnt. Ich finde den Mikrokosmos Hochhaus spannend, aber meine Erlebnisse waren anders als in unserem Film. In den Häusern, in denen ich gewohnt habe, hatte die Hausgemeinschaft etwas Anonymes, obwohl man sich kannte. Im Film aber wollten wir das Hochhaus eher als Dorf oder als deutschen Vorort zeigen, der in die Höhe wächst.Als ich selbst im Hochhaus wohnte, haben mir die Leute aus Einfamilienhäusern eher gespiegelt, dass das nicht »the place to be« sei. In unserer Geschichte wollte ich Platte anders erzählen: als Ort, an den man hinwill.
Sie schreiben auf Ihrer Webseite, Sie wollen die Menschen »in ihrer ganzen Absurdität« zeigen. Was bedeutet das?
Manchmal ist es schwierig, die eigene Filmsprache zu beschreiben. Ich arbeite mit Zuspitzungen, die vielleicht absurd wirken können. Aber ich glaube, dass ich in dieser Überhöhung eine große Wahrhaftigkeit finde. Ich denke, dass es den meisten Regisseur*innen um eine Ehrlichkeit der Geschichte und der Figuren geht, aber der Weg dorthin ist ganz unterschiedlich.
Wie sind Sie zu Ihrer Hauptdarstellerin Ioana Iacob gekommen?
Der Castingprozess ist wie Drehbuchschreiben. Am Anfang weiß man noch nicht, wo es hingeht. Je nachdem, wen man kennenlernt, wird die Figur eine andere. Wir haben viele osteuropäische Schauspielerinnen gecastet. Fast im letzten Moment hat unser Caster Karl Schirnhofer dann die rumänische Schauspielerin Ioana Iacob vorgeschlagen. Ich hatte sie schon mal in einem Film gesehen und fand sie toll. Doch ich dachte lange, dass Anna russischsprachig werden muss. Beim Zoom-Gespräch mit Ioana aber wusste ich sofort: Das ist sie.
Ihre Szenografin Elisabeth Kozerski wird in der Berlinale-Sektion »Perspektive Deutsches Kino« als »Talent« hervorgehoben. Wie haben Sie Ihr Team gefunden?
Mein Team habe ich über die Geschichte gefunden. Sie alle haben die Geschichte gelesen und gesagt: Das will ich machen! Auch unsere Produzentin Julia Wagner und unsere Szenografin Elisabeth Kozerski. Ich schätze an Elisabeth, dass wir dieselbe Sprache sprechen und den gleichen Geschmack und Humor haben. Elisabeth hat beispielsweise die Idee eingebracht, dass die Hausbewohner*innen Golf spielen - um zu zeigen, dass das ein elitärer Ort ist.Wie hat sich die Corona-Pandemie auf die Dreharbeiten ausgewirkt?
Ich hatte große Angst, aber die musste ich ausblenden. Wir hatten kein großes Budget, deshalb wäre es eine Katastrophe gewesen, wenn jemand krank geworden wäre und wir den Dreh hätten verschieben müssen. Zum Glück ist das nicht passiert. Natürlich waren auch die Komparsen-Szenen schwierig. Vieles habe ich mir viel voller vorgestellt, aber die Anzahl der Leute musste beschränkt werden. Auch mit Maske zu inszenieren war nicht einfach, weil mich die Schauspieler*innen nicht richtig sehen konnten, wenn ich versucht habe, ihnen etwas zu spiegeln.Gleichzeitig habe ich das Gefühl, dass wir durch diese schwierigen Bedingungen zusammengewachsen sind.
Was ist das für ein Gefühl, mit Ihrem Abschlussfilm bei der Berlinale dabei zu sein?
Wir sind unfassbar dankbar und glücklich. Dadurch fühlen wir uns mit unserer Arbeit gesehen. Wir haben alle viele Kurzfilme gemacht und dafür gekämpft, unsere eigene Filmsprache zu entwickeln. Wenn dann Leute sagen: Das ist gut, wir eröffnen damit die »Perspektive Deutsches Kino« ist das für uns eine unglaubliche Bestätigung, weiterzumachen, weil wir in unserer Filmsprache etwas Neues probieren wollten.
Wie geht es weiter?
Viktor Gallandi schreibt schon am nächsten Langfilm, der - so viel kann ich verraten - in einer poppigen Dystopie spielen wird und den ich inszenieren werde. Für »Wir könnten genauso gut tot sein« haben wir den Eksystent-Filmverleih gefunden, der den Film im Sommer oder Herbst in die deutschen Kinos bringen wird. Außerdem hat sich Fortissimo Films die internationalen Rechte gesichert. Wir werden sehen, auf welchen Festivals er laufen wird. Die Berlinale ist ein toller Start.
»Wir könnten genauso gut tot sein«: Deutschland/ Rumänien 2022. Regie: Natalia Sinelnikova, Buch: Natalia Sinelnikova, Viktor Gallandi. Mit: Ioana Iacob, Pola Geiger, Jörg Schüttauf, Şiir Eloğlu, Moritz Jahn. 94 Min. Termine: Fr 11.2., 18.45 Uhr: International; Sa 12.2., 14.30 Uhr: Cubix 6; Do 17.2. 14 Uhr: International; Fr 18.2., 11 Uhr: International; Sa 19.2., 21.30 Uhr: CinemaxX 1; Sa 19.2., 21.30 Uhr: CinemaxX 2.In der neuen App »nd.Digital« lesen Sie alle Ausgaben des »nd« ganz bequem online und offline. Die App ist frei von Werbung und ohne Tracking. Sie ist verfügbar für iOS (zum Download im Apple-Store), Android (zum Download im Google Play Store) und als Web-Version im Browser (zur Web-Version). Weitere Hinweise und FAQs auf dasnd.de/digital.
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