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Verstörte Gesellschaft
Pop, Moderne und rechte Gefahr: Markus Metz und Georg Seeßlen haben mit »Apokalypse & Karneval« einen brillanten Essay zur Kultur im Spätkapitalismus vorgelegt
»Apokalypse & Karneval« - tief in die eigene Erfahrungswelt zielen die beiden Begriffe und bringen etwas auf den Punkt, was längst benannt sein wollte. Ein widersprüchliches Zeitgefühl, gemischt aus der Sorge, Schlimmes erwarten zu müssen und dem Wunsch, sich dadurch nicht die Laune verderben zu lassen. Tanz auf der »Titanic«? Aber die »Titanic« ging nachweislich unter, und die Begleitmusik heutiger gesellschaftlicher Krisen passt kaum zu einem irgendwie gesitteten Tanz. Vielmehr verwandelt sich jene Kultur, »auf die wir so große Stücke halten«, so heißt es in dem kürzlich erschienenen Buch, »in einen Geisterraum, dem das Zeitgenössische und Kritische, der Aufbruch und der Widerspruch ausgetrieben wurden«.
Es gehört zu den Stärken von Markus Metz und Georg Seeßlen, etwas auf den Punkt zu bringen, was man selbst womöglich so apodiktisch nicht ausdrücken würde. Unwillkürlich kommen mir eine ganze Reihe literarischer Werke in den Sinn, die eben gerade das Kritische, den Widerspruch in sich tragen. Kurzzeitig gelangen sie in den öffentlichen Diskurs, aber die Wertmaßstäbe haben sich verschoben: Anderes, weniger Ernstes, scheint genauso beachtenswert, gar wichtiger, weil es ein größeres, zudem noch jüngeres Publikum ansprechen könnte. »Es ist ein Fluss der Karnevalisierung und Trash-Kultivierung«, so die beiden Autoren, den es lange schon gäbe, der aber »bis in den Wohlfühl- und Fürsorgekapitalismus der 60er Jahre hinein« eine »Begrenzung« hatte.
Einverleibte Gegenkultur
Ob die 68er mit ihren emanzipatorischen Bestrebungen, indem sie diese »Begrenzung« angegriffen haben, womöglich kulturelle Wegbereiter jener Vorgänge waren, die im heutigen Neoliberalismus so deutlich werden? Auch diese ketzerische Frage kommt mir in den Sinn. Aber gleichzeitig zum »Flower Power« gab es doch die Gruppe 61 und den Werkkreis Literatur der Arbeitswelt! Dass sich das Kräfteverhältnis veränderte, hat wohl tatsächlich damit zu tun, wie geschickt sich die herrschende Kultur ursprünglich Widerständiges einverleibt hat. »Die Gegenkultur wird zum Mainstream«, wie der Soziologe Andreas Reckwitz in »Spätmoderne in der Krise« schreibt.
Dass der »Karneval« und die Pop-Kultur immer auch etwas Befreiendes haben, wird von Metz und Seeßlen nicht ausgeblendet: »Wie die Lachkultur ist auch der Horror ein Spiegel der Verhältnisse, der auf indirekte Weise die Wahrheit sagen kann, ohne dem Mainstream-Konsens wirklich gefährlich zu werden.« Wenn aber Kultur befreit ist »von der Verpflichtung, Sinn zu produzieren«, ist dies für das gesellschaftliche Ganze fatal. »Während sich Kritik mehr und mehr in eine Art des selbstgefälligen Krawallfeuilletonismus verwandelt, versucht Opposition kaum noch, Gegenentwürfe zu präsentieren«, schreiben Metz und Seeßlen. »Der Insasse der Postdemokratie im Neoliberalismus darf sich frei fühlen, weil ihn die Regierung von jedem Mitspracherecht und jeder Mitverantwortung freigesprochen hat«. Und weiter: »Pop wurde der große kulturelle, sexuelle und politische Schmelztiegel der späten Moderne. Befeuert von Musik, Filmen und Shows, aber keineswegs auf die Unterhaltungsindustrie beschränkt, breitete sich das Prinzip in der Alltags- und Arbeitswelt aus.«
Kaleidoskopische Kulturkritik
Man spürt beim Lesen, wie lustvoll die beiden Autoren sich auf ihrem Gedankenweg auch sprachlich vorantreiben ließen. Und manchmal reiten sie ihre Pferde aber, ohne sich umzublicken, ob Leser auch hinterherkommen; ob da vielleicht etwas zu differenzieren, weiter auszuarbeiten, zu erklären sei. Immer weiter geht’s, sie haben so viele Eindrücke aus der Wirklichkeit zu verarbeiten - von der Warenwelt bis zur Mode, von den Veränderungen des visuellen wie des kulinarischen Geschmacks bis zum Mobbing, von der Lust an »Kaputtheit« und »Cross-over« bis zum Rasen im Straßenverkehr und dem Phänomen Helene Fischer. Es ist ein brillanter Essay, der aufmerksam Lesenden die Chance eröffnet, verschiedene Zeitphänomene zusammenzudenken. Auch wenn vielfach von »Gespenstern« die Rede ist - der vorige Band beider Autoren über »Lebenswelten im Neoliberalismus« hieß »Beute und Gespenst«, der erste »Kapitalistischer (Sur)realismus« - so hilft die Lektüre doch, diese im eigenen Denken zu vertreiben, indem man Durchblick gewinnt.
Was nicht bedeutet, dass hier ermutigende Aussichten verbreitet würden. Über die Klassenstruktur und die Zumutungen des Spätkapitalismus für den Einzelnen wurde auch anderswo schon Profundes geschrieben. So liest man die Aussagen von Metz und Seeßlen im Verbund mit Andreas Reckwitz, Hartmut Rosa, Joseph Vogl, Wolfgang Engler, Byung-Chul Han, um nur einige zu nennen. Doch geht es hier vornehmlich um kulturelle Phänomene, die allerdings gesamtgesellschaftlich eingeordnet werden. Und um eine radikale Kritik, die die Autoren im Vorwort verteidigen, gerade weil sie in der Krise ist. Um eine solche Kritik wiederzubeleben, muss man die Katastrophe beschreiben, in der wir uns befinden.
Die Autoren schreiben: »Die Kultur des Neoliberalismus, die einem Zerfall der Kultur entspricht, die einmal die Aufgabe hatte, die Widersprüche zwischen Demokratie und Kapitalismus zu überbrücken, durch ein Angebot von Kritik, Traum, Versprechen, Nostalgie und Kompensation, ist nun vollständig in den Dienst des Wachstums gestellt«. Weil dieses immer schwieriger zu erwirtschaften sei, müsse es mit »allen zur Verfügung stehenden oder auch neuen Mitteln erzwungen werden«. Mit allen Mitteln - was alles dafür in Kauf genommen werden könnte, der Gedanke ist wichtig. Das schließt selbst »Kapitalvernichtung« ein, die auch in der Oberklasse stattfindet, freilich vornehmlich nach unten verlagert wird: in die Mittelklasse, deren Hoffnungen auf Aufstieg und Sicherheit in Gefahr geraten.
Orientierungsloses Kleinbürgertum
Die Diagnose von Metz und Seeßlen ist deutlich: Der »Pakt zwischen Kleinbürgertum, Kapital und Demokratie wurde im Neoliberalismus aufgelöst, zunächst schleichend, dann zunehmend heftig«. Dass darin eine Ursache für die teilweise »völkische Neubestimmung« gerade des Kleinbürgertums gesehen werden kann, ist nicht von der Hand zu weisen. »Wir Kleinbürger 4.0« heißt entsprechend ein weiteres Buch von Metz und Seeßlen, das im vergangenen Jahr veröffentlicht wurde. Das Thema ist aktuell! Im »Geist der Kränkung« werden, wie so oft, Sündenböcke gesucht. Die allgegenwärtige Vereinzelung, das »Jeder gegen jeden« lässt in einer zutiefst gespaltenen Gesellschaft »tribalistische Notgemeinschaften« wachsen. »Sentimentalität und Brutalität sind im neoliberalen Menschen unverbunden nebeneinander im Werk.« Diese scharfsinnige Feststellung kann vieles erklären, was im Alltag beunruhigt.
Einzelne Gruppen gegeneinander auszuspielen oder dieses Gegeneinander zumindest zu ermöglichen, ist eine uralte Technik des »Teilens und Herrschens«. Das »Gespenst der rechten Ideologie« sehen Metz und Seeßlen als reale Bedrohung und zitieren am Ende Dietmar Dath, der drei Eskalationsstufen benennt: »die niedrigste, ›wo der Staat gegen die Stämme noch handlungsfähig ist‹, die zweite, ›auf der er sie ihren Zank unter sich ausmachen lässt‹, und die schlimmste, ›auf der er Partei ergreift und das Bündnis von Mob und Elite baut, das die Geschichtsschreibung ›Faschismus‹ nennt‹.«
Markus Metz und Georg Seeßlen: Apokalypse & Karneval. Neoliberalismus: Next Level. Bertz + Fischer, 191 S., br., 14 €.
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