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Der Traum von der Dekolonisierung
Das Essay von dem Dichter und Philosoph Édouard Glissant »Philosophie der Weltbeziehung« ist auf Deutsch erschienen - ein Plädoyer für das Denken des Vielfältigen
Als Édouard Glissant anfing, seinen Essayband »Philosophie de la Relation« zu schreiben, war ihm bewusst, dass ihm nicht mehr viele Jahre bleiben würden. Der 1928 auf Martinique geborene Dichter, Romanautor und Philosoph hat die Übergänge vom Kolonialismus zum Neokolonialismus zur neoliberalen Globalisierung von der Karibik aus miterlebt. Sein Werk ist den sich verändernden Widerstandsstrategien gegen diese Unterdrückungsformen gewidmet, von den ersten geflohenen Sklaven vor mehr als 500 Jahren bis zu kulturellen Untergrundbewegungen des 21. Jahrhunderts. Seine Bücher »Poétique de la Relation« und »Le discours antillais«, in denen er die Konzepte der Kreolisierung, Opazität und Relation vorstellte, bescherten ihm den Ruf des bedeutendsten postkolonialen Theoretikers der frankophonen Karibik.
Spätwerk eines Ruhelosen
Mit zunehmendem Alter schlich sich trotzdem Bitterkeit darüber ein, dass ihm die Anerkennung für sein literarisches Gesamtwerk verwehrt blieb. Glissants Schreibstil sei unleserlich, die Themen seiner Romane würden sich wiederholen und seine Poetik sei ohne politischen Biss, so der Vorwurf seiner Kritiker. In die Exotismus-Ecke der Frankophonie gedrängt, fand Glissant wie Léon-Gontram Damas und Maryse Condé vor ihm, Anfang der 1990er Jahre Exil in der US-amerikanischen Akademie. Zuletzt pendelte er zwischen New York, Martinique und Paris, wo er 2006 ein Kulturinstitut gegründet hatte. Dort ermutigten ihn Freunde, seine Denkbewegungen in einem letzten Essayband zusammenzufassen. Vielleicht würden ihre Tiefe und Reichweite so auch für Uneingeweihte etwas leichter ersichtlich werden.
Glissant starb 2011 in Paris. Die »Philosophie de la Relation« erschien 2009 und liegt jetzt, von Beate Thill übersetzt, unter dem Titel »Philosophie der Weltbeziehung« auf Deutsch vor. Mit Blick auf das Inhaltsverzeichnis ließe sich vermuten, Glissant habe sich dazu hinreißen lassen, sein Denken, das sich sonst eher an freiwachsende tropische Vegetation, Jazz-Improvisation und Chaostheorie anlehnt, doch noch zu systematisieren und zu fixieren. »Das Archipelische Denken«, »Das Denken von den Kreolisierungen« oder »Das Denken von der Opazität der Welt« werden einem Lexikon ähnlich in kurzen Unterkapiteln eins nach dem anderen vorgestellt. Wer sich darunter wissenschaftliche Definitionen erhofft, wird jedoch enttäuscht. Auch Glissants letzter Essayband bleibt beweglich und ist durchweg in lyrischer Prosa verfasst. »Was ist also eine Philosophie der Weltbeziehung?«, lautet der Titel eines Kapitels. »Unmöglich, wenn sie nicht die Form einer Poetik annimmt«, so die Antwort.
Philosophie und Dichtung
Der Reiz oder die Provokation Glissants liegen in einem Denken und Schreiben, die sich weigern, Form und Inhalt, Mittel und Zwecke, Intuition und Ratio voneinander zu trennen. Die Schönheit seines Werks lässt sich deswegen überzeugender anhand einzelner Bilder, überraschender Verbindungen und der Musikalität einzelner Sätze aufzeigen, als in verallgemeinerten Aussagen über die Bedeutung seines Denkens für bestimmte Probleme.
Das meinte sein Freund Gilles Deleuze wohl, als er bemerkte, dass Glissant Philosophie und Dichtung in ihrer ursprünglichsten und reinsten Form miteinander vereine. Gleiches ließe sich auch von der Verbindung der Literatur mit dem Politischen sagen - einem Begriff, der in der »Philosophie der Weltbeziehung« wiederholt auftaucht, als würde es ihm darum gehen, den Vorwurf seiner Skeptiker zu widerlegen. »Das Politische ist die neu entdeckte Übereinkunft, vom kleinen Detail aus zu einer offenen Totalität zu gelangen, und dabei die verallgemeinernden Ideologien zu meiden«. Was damit gemeint ist, erschließt sich nur im Weiterlesen. Das Recht auf Opazität, den »undurchschaubar bleibenden Anteil zwischen dem Anderen und mir«, gilt auch für die Lektüre von Glissant und kann bereits als angewandte Politik der Relation im Kleinen gelten.
Bei Glissants wohl bekanntester These einer sich kreolisierenden Welt geht es keinesfalls um klassische interkulturelle oder gar biologische Vermischungen, sondern um einen welthistorischen Prozess, der sich auf der Ebene des Imaginären abspielt. Darunter versteht Glissant »die Art sich zu denken, die Welt zu denken, sich selbst in der Welt zu denken, seine Grundsätze zu ordnen und seine Heimat zu wählen«. Dies schrieb er gemeinsam mit Patrick Chamoiseau in dem 2009 an Barack Obama adressierten offenen Brief »Die unbezähmbare Schönheit der Welt«. Politisch ist damit eine Vorstellungskraft gemeint, die jenseits einer eurozentristischen Weltsicht von Neuem über Formen des Zusammenlebens, Identitäten, sowie über zeitliche und räumliche Verbindungen nachdenkt, die von der westlichen Moderne verbannt wurden. Ein Unterschied zwischen Glissant und prominenteren Spielarten postkolonialer Kritik liegt, neben seiner poetischen Ausdrucksweise, in der Betonung von Kreativität und der Bereitschaft zu utopisch klingenden Projekten. Dazu zählen unter anderem ein pan-karibisches Kunstmuseum und ein Ökologieprojekt auf Martinique und ein Museum der Sklaverei in Paris. Keines von ihnen wurde verwirklicht.
Alles ist Relation
Glissants Ideen betreffen zwischenmenschliche Beziehungen und größere Gemeinschaften, das Detail und die »nicht-totalitäre Totalität« gleichermaßen. Das wird besonders am Begriff der Relation deutlich, dessen deutsche Übersetzung als Weltbeziehung eine Reduzierung auf seine globale Dimension riskiert. Würde sich Glissants archipelisches Denken nicht grundsätzlich gegen die Gegenüberstellung von Zentrum und Peripherie wehren, stünde die Relation im Zentrum seiner Philosophie. Im Kern beruht sie auf einer unerreichbaren Sensibilität gegenüber der »Quantität aller Differenzen auf der Welt, ohne dass eine einzige ausgenommen werden könnte«. Ihr geht es darum zu »verbinden, Beziehung herzustellen und zu erzählen«, um »die Verschiedenheit« vor der homogenisierenden Gewalt des »Identischen« zu schützen. Trotz ihres lateinischen Ursprungs lohnt es sich, Glissants Vorstellung von Relationalität mit animistischen Weltvorstellungen indigener karibischer und afrikanischer Völker in Verbindung zu bringen. In ihnen wird die hierarchische Trennung von Subjekt und Objekt, dem Eigenen und dem Anderen, Mensch und Natur, Gegenwart und Vergangenheit aufgehoben, die mit der Kolonisierung in der Karibik Einzug hielt. In Glissants Romanwelt verschwimmen historische Epochen in spiralförmigen Bewegungen, sind die Wälder Martinique von Schlangen bevölkert, die mit geflohenen Sklaven Allianzen eingehen, und leben die Geister des Mahagonibaums in den Charakteren Maho, Mani und Goni weiter.
Glissant hat den Ursprung kolonialer wie gegenwärtiger Gewaltformen in Denktraditionen gesucht, die sich dem Selben, der Homogenisierung und dem Ausschluss des Anderen mit dem Ziel der Ausbeutung und Weltbeherrschung verschrieben haben. Es lohnt sich, das theoretische Potenzial der Relation zu erkunden, um Verbindungen zwischen antirassistischen, antikapitalistischen, feministischen und ökologischen Bewegungen entstehen zu lassen, die die Ablehnung dieser binären Weltsicht teilen.
Erfahrung der Dekolonisierung
Für Glissants Generation war der Geschichtsbruch der Dekolonisierung prägend, als in den 1950er Jahren hinter dem kolonialen Schleier einer einzigen weißen Zivilisation auf einmal eine Vielzahl von Kulturen sichtbar wurde, die das Recht auf Gleichwertigkeit und Souveränität einforderten. Dass Glissant gegen Ende der »Philosophie der Weltbeziehung« dem ersten Kongress Schwarzer Schriftsteller und Künstler an der Sorbonne 1956 ein eigenes Kapitel widmet, ist dieser Erfahrung zuzuschreiben. An dem als »kulturellem Bandung« (in Anspielung auf die berühmte asiatisch-afrikanische Bandung-Konferenz von 1955) gefeiertem Treffen - es nahmen unter anderen Aimé Césaire, Frantz Fanon, Richard Wright James Baldwin und Joséphine Baker teil - war für Glissant weniger der Aspekt der intellektuellen Selbstbehauptung bemerkenswert, als das Credo einer Einheit in Vielfalt, die auf der Anerkennung der Unterschiedlichkeit kolonialer Erfahrung beruhte. »Es war das Eintreten in das Bewusstsein einer Welt-Totalität«, erinnert sich Glissant. Gegen eine Isolierung Glissants als »großem Denker« oder »Prophet der Kreolisierung« ruft das inzwischen legendäre Gruppenfoto des Kongress von 1956 eine transnational vernetzte Gemeinschaft Schwarzer Dichter und Denker hervor, der sich Glissant zugehörig fühlte. Die autobiografischen Elemente, die in seinen letzten Essayband einfließen, vermischen sich deswegen mit der Geschichte dieses Kollektivs, das von der Dekolonisierung der Welt träumte.
Édouard Glissant: Philosophie der Weltbeziehung. Verlag Das Wunderhorn, 140 S., br., 20 €.
Moses März hat Politikwissenschaften an der Freien Universität Berlin studiert und anschließend an einer Dissertation über Édouard Glissants Politik der Relation am African Studies Department der University of Cape Town (Südafrika) gearbeitet. 2020 hat er seine Promotion an der Universität Potsdam abgeschlossen. Seit 2014 ist er Redaktionsmitglied des panafrikanischen Literaturmagazins »Chimurenga Chronic«. 2018 hat er zusammen mit Philipp Meyer die Literaturzeitschrift »Mittel & Zweck« in Berlin gegründet.
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