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Viel Üben hilft
Sprachstörungen nach Hirnschäden zeigen eine große Vielfalt
»Ich bin Aphasiker, aber ich verstehe jedes Wort«, sagt Thomas Loch zu Beginn des Interviews. »Oft reden die Leute mit mir, als ob ich ein Dummchen wäre. Deshalb sage ich das immer gleich.« Der 60-Jährige spricht klar und deutlich, aber mit einer ungewohnten Sprachmelodie, die an einen französischen Akzent erinnert. Ab und zu macht er Pausen, sucht nach Wörtern, erwischt auch mal ein falsches, verbessert sich, setzt noch einmal an. Der ehemalige Vertriebsleiter wurde vor zwölf Jahren durch einen Schlaganfall jäh aus dem gewohnten Leben gerissen. Beim Judotraining fiel er einfach um, hatte aber das Glück, in nur 27 Minuten in eine spezialisierte Stroke Unit (Schlaganfallabteilung) zu kommen. Dennoch erlitt er eine halbseitige Lähmung und eine Aphasie, mit der er heute noch kämpft. Seit vier Jahren ist er Vorsitzender des Aphasie-Landesverbandes Bayern.
Aphasie ist eine erworbene Sprachstörung, die durch eine Hirnschädigung hervorgerufen wird. Nach Angaben des Deutschen Bundesverbands für Logopädie sind zu etwa 80 Prozent Schlaganfälle die Ursache. Aber auch Kopfverletzungen, Tumoren oder Entzündungen können zu einer Aphasie führen. Von dieser Sprachlosigkeit, wie die Bezeichnung übersetzt lautet, können alle sprachlichen Ebenen betroffen sein: Verstehen und Sprechen, Lesen und Schreiben. Allerdings sind Ausmaß sowie Art und Weise der Störung im Einzelfall ganz unterschiedlich.
Für die Betroffenen ist es sehr belastend, kaum oder nur schlecht mit der Umwelt kommunizieren zu können. »Es ist eine existenzielle Erfahrung, nicht mehr verstanden zu werden«, sagt die Logopädin Ilona Rubi-Fessen, zweite Vorsitzende der Gesellschaft für Aphasieforschung und -behandlung. Grob vereinfacht kann man sich den Zustand so vorstellen, als sei man allein in einem Land, dessen Sprache man nicht kennt - und wo auch niemand die eigene versteht. »Die Post-Stroke-Depression ist gerade bei Aphasie verbreitet«, betont sie. »Verzweiflung und kommunikativer Rückzug sind häufig die Folgen.«
Auch Thomas Loch sagt: »Eine Aphasie ist deprimierend. Mein Leben wurde dadurch komplett auf den Kopf gestellt.« Er war es gewohnt, viel zu sprechen - und tat das auch nach seinem Schlaganfall. Dass er dabei nur unverständliche Silben- und Wortreihen produzierte, merkte er erst nach einer Weile: »Zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung ist ein Riesenunterschied.«
Seine Diagnose lautete »globale Aphasie«. Diese Form der Störung ist die schlimmste: Dabei sind sowohl das Verstehen als auch die Sprachproduktion stark beeinträchtigt. Oft wiederholen die Patienten nur noch sinnlose Silben, etwa »Jajaja«. Kommunikation ist kaum noch möglich. Bei einer anderen Form, der Broca-Aphasie, ist die Sprache stockend und abgehackt. Die Betroffenen sprechen im »Telegrammstil«, ihr Sprachverständnis ist oft relativ gut. Wenn die Patienten flüssig und viel reden, dafür aber viel Nichtssagendes und Sinnloses, spricht man von einer Wernicke-Aphasie. Bei dieser Form ist das Sprachverständnis meist stark beeinträchtigt. Daneben gibt es die leichtere amnestische Aphasie, bei der die Betroffenen vor allem Probleme haben, einzelne Wörter oder Formulierungen zu finden.
Doch einige Patienten haben Glück. Bei jedem Dritten verschwinden die Probleme innerhalb der ersten Wochen nach dem Schlag von selbst, wie es bei der Stiftung Deutsche Schlaganfall-Hilfe heißt. »In den ersten zwölf Monaten sind die Aussichten auf eine Besserung gut«, sagt Holger Grötzbach, Leitender Logopäde der Asklepios-Klinik Schaufling. »Danach verlangsamt sich das Tempo.« Vor allem bei schweren Aphasien muss man mit einer chronischen Beeinträchtigung rechnen. Jedoch wissen Sprachtherapeuten inzwischen: Auch nach Jahren sind noch Fortschritte möglich.
Wie die logopädische Therapie aussieht, ist ganz verschieden. »Das Wichtigste ist zunächst die Diagnostik. Man muss sehen, welche Bereiche der Sprachverarbeitung gestört sind, was erhalten ist und welche Ziele der Patient hat«, erklärt Rubi-Fessen. Darauf aufbauend wird ein Programm zusammengestellt, das auf den Patienten zugeschnittene Übungen und Inhalte enthält. Nach wie vor gängig ist das Konzept der Modalitätenaktivierung, das vor rund 40 Jahren von der Hamburger Sprachtherapeutin Luise Lutz entwickelt wurde. Die Idee dahinter ist, verschiedene sprachliche Aktivitäten - also Hörverstehen, Leseverstehen, Schreiben, Sprechen - gleichzeitig anzuregen. »Die Wirksamkeit des Programms ist aber nicht bewiesen«, sagt Rubi-Fessen.
Gut belegt ist dagegen der Nutzen der neuen evidenzbasierten sprachsystematischen und kommunikativ-pragmatischen Aphasietherapie, die auch darauf setzt, die kommunikativen Fähigkeiten im Alltag zu stärken. Daneben ist eine Gruppentherapie verbreitet, bei der die Teilnehmer sozusagen gezwungen werden, sich sprachlich - und nicht etwa durch Gestik - auszudrücken. »Das ist sehr kommunikativ und macht den Patienten Spaß«, berichtet Rubi-Fessen.
Gerade bei schweren Aphasien hat sich außerdem die melodische Intonationstherapie bewährt: Dabei wird versucht, Patienten durch Singen und rhythmisches Klopfen zum Mitsingen und -sprechen zu bringen. Erstaunlicherweise können manchmal auch Aphasiker, die sich kaum äußern können, bekannte Liedtexte singen. Das liegt daran, dass vertraute Floskeln in der rechten, intakten Hirnhälfte verankert sind - bewusste Sprache dagegen in der linken, die bei der Störung meist geschädigt ist. »So erklärt sich auch, dass hoch automatisierte Äußerungen oft noch abrufbar sind«, erklärt Rubi-Fessen. Selbst von schwer betroffenen Aphasikern sind nämlich häufig Floskeln wie »Alles klar« oder »Gott sei Dank« zu hören.
Bei jeder Therapie hängt der Erfolg davon ab, möglichst intensiv zu arbeiten. »Viel hilft viel«, sagt Holger Grötzbach und empfiehlt, mindestens 300 Minuten pro Woche zu üben. Um dieses hohe Niveau zu erreichen, kann man mit Übungen, die Logopäden individuell empfehlen, auch selbstständig trainieren - sei es mit Stift und Papier oder am Computer. Außerdem bieten verschiedene Praxen und Kliniken mehrwöchige Intensivtherapien an.
Ein zusätzlicher Effekt lässt sich möglicherweise mit Hirnstimulation erreichen: Dazu wird das Gehirn während der Therapieeinheit zum Beispiel durch einen schwachen Gleichstrom angeregt. »Die Verfahren sind noch in Erprobung«, sagt Rubi-Fessen und mahnt zur Vorsicht: »Es ist wichtig, dass sich Patienten nur in Zentren behandeln lassen, die damit Erfahrung haben.« Bald lässt sich auch mehr zu den Effekten sagen: Derzeit läuft an der Uni Greifswald eine große Studie zur Wirksamkeit von Gleichstromstimulation bei chronischen Aphasien.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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