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»Einzige Chance: das Land verlassen«
Die Energie einer Flüchtlingskarawane in Zentralamerika filmen: Ein Gespräch mit Regisseur Jakob Krese
Sie haben einen Dokumentarfilm über eine Flüchtlingskarawane 2019 gedreht: »Lo que queda en el camino«. Darin läuft Ihre Protagonistin Lilian mit ihren vier Kindern von Guatemala bis zur mexikanisch-amerikanischen Grenze. Wie haben Sie Lilian kennengelernt?
Wir waren schon Wochen in der Karawane unterwegs. Freunde von uns kannten Lilian und haben uns gebeten, sie zu unterstützen. Erst mal waren wir etwas überfordert, denn wir wollten ja auch einen Film über die Karawane drehen. So sind wir als Reisegruppe zusammengewachsen. Mit der Zeit haben die Kinder und Lilian immer mehr unsere Kamera angezogen, bis klar war, dass sie eine wichtige Rolle im Film haben würden.
Wie alt waren Lilians Kinder?
Anali war zwei, Noe fünf, Blanca sieben und Sergio 12. Noe musste alleine laufen, Anali war bei Lilian auf dem Rücken. Sergio ist vorangelaufen und hat Geld und Essen besorgt. Für Noel würde ich sagen, war es am anstrengendsten, weil er Schritt halten musste. Der war zu groß, um noch getragen zu werden und zu klein, um richtig mitzulaufen.
Welche Entfernungen hat die Karawane pro Tag zurückgelegt?
Rekord waren 50 Kilometer. Der Durchschnitt waren zirka 15 bis 20 Kilometer.
Wann ist die Karawane losgegangen?
Am 15. Januar 2019 ist sie in Honduras gestartet, von San Pedro Sula, der zweitgrößten Stadt in Honduras.
Wie viel Leute waren das insgesamt?
Das ist schwer zu sagen, das schwankte beständig. Als sie am kleinsten war, liefen da ungefähr 1000 Leute und als sie am größten war, etwas über 10 000. Das war eine flexible Masse. Manche gehen eine Weile mit und hören dann wieder auf. Andere bekommen Papiere und reisen dann allein.
Wie lang hat es gedauert, bis die Karawane die US-Grenze erreicht hat?
Fast drei Monate.
Was war der Startschuss?
Im Prinzip ein Facebook-Post. Da steht dann so etwas wie »Die große Karawane geht los, wir treffen uns um fünf Uhr morgens am 15. Januar am Busbahnhof«. Das spricht sich rum und dann treffen sich da die Leute.
Wie viele Karawanen hat es bislang gegeben?
Karawanen gibt es seit über zehn Jahren. Unsere Karawane war die letzte, die es aus Honduras bis an die US-Grenze geschafft hat. Seitdem nimmt die Repression gegen die Migrant*innen beständig zu. Die USA drohen Mexiko mit Zöllen, wenn sie die Migration nicht stoppen. 17 große Auffanglager wurden im Süden Mexikos aus dem Boden gestampft und das Militär macht mittlerweile Jagd auf Migrant*innen.
Kommen auch Menschen in die USA rein?
Ja, gar nicht so wenige. Es ist immer davon abhängig, wie viele Kontakte man in den USA hat. Wenn du nicht untertauchen kannst, kommst du in den Staaten in ein Auffanglager, das ist wie ein Knast und es ist sehr schwer, wieder raus zukommen. Da bleibst du, bis dein Asylprozess entschieden wird. Wenn du aber Leute hast, die dich rauskaufen, dann hast du eine Chance. Es dreht sich also auch hier alles ums Geld. Wenn du genug hast, kannst du Schmuggler bezahlen, die so gut sind, dass sie dich über die Grenze kriegen, ohne dass du erwischt wirst. Oder du hast Kinder. Denn dann wirst du normalerweise nach einer kurzen Zeit wieder aus dem Lager rausgelassen. Aber meistens mit einer GPS-Fußfessel, damit du nicht untertauchen kannst.
Lilian und ihre Kinder kommen nicht rein in die USA.
Ja, zum Schluss des Films ist sie in Tijuana geblieben. In einer Casa Migrante, so sagt man in Mexiko. Das sind nicht wie in Deutschland staatlich organisierte Flüchtlingsheime, sondern Häuser, die meist von der Kirche betrieben werden, in denen Migranten*innen wohnen können. In Lilians Fall ist es ein Haus, das Leute von der LGBTQ-Community aufgebaut haben, das aber offen ist für Familien und alleinerziehende Mütter. Ich glaube, es war eine gute Entscheidung, nicht in die USA zu gehen, wo sie niemanden hatte.
Warum kümmern sich die LGBTQ-Leute so sehr um die Karawane?
Ein wichtiger Fluchtgrund aus Zentralamerika ist Homophobie und Transphobie. Und um sich innerhalb der Karawane zu schützen, schließen sich die LGBTQ-Leute zusammen und laufen gemeinsam. Die LGBTQ-Comunity war am besten organisiert. Sie haben sich jeden Tag um das Essen gekümmert. Wir haben sogar einmal eine Szene gedreht, in der ein Mann aus der Karwane sagt: »Wir beschimpfen sie als Schwuchteln und sie kochen auch noch für uns. Das sind wirklich tolle Menschen«.
Manchmal sieht man die Menschen der Karawane auch auf Lastwagen mitfahren. Ist das eine Form von Auto-Stopp?
Genau, das ist wie Trampen, nur mit Hunderten von Menschen. Die laufen die 4000 Kilometer nicht alle gemeinsam zu Fuß. Das Wichtige an den Karawanen ist, dass man an den Checkpoints durchkommt.
Woher bekommt die Karawane das Essen? Von Hilfsorganisationen?
Unterschiedlich. Die Leute haben kein Geld, sie fragen nach Geld. Und wenn die großen Organisationen wie die UNHCR, die Flüchtlingshilfe der UNO, nicht viel unternimmt, dann gibt es meist irgendwelche kleinen Gruppen und Vereine, die fast an jeder Station ein bisschen Essen ausgeben. Das reicht oft nicht. Es war insgesamt auch für uns eine eher hungrige Zeit.
Wo wird geschlafen?
Oft im Park. Im Süden war das noch gar kein Thema, weil es da tropisch warm war. Je weiter wir in den Norden kamen, desto kälter wurde es und wir bekamen Turnhallen zur Verfügung gestellt. Gegen Ende wurde es schlimmer, da die US-Administration anfing, der mexikanischen Regierung mit Zöllen zu drohen. Das hatte direkte Auswirkungen auf die Karawane. Die Bundespolizei verbot uns zu trampen. Die einzige Lösung war der Zug.
Den sieht man im Film. Hat der für die Karawane angehalten?
Da musste jemand aufspringen während der Fahrt, das war sehr gefährlich. Der Zug hat eine hydraulische Verbindung zwischen den Waggons. Wenn man da während Fahrt die Luft rauslässt, dann muss der Zug zirka 20 Minuten halten. Und in dem Moment springen alle rauf.
Die Karawane organisiert sich selbst.
Kann man so sagen, ja. Unter den Tausenden Leuten hast du ja auch immer welche, die einfach mitlaufen und die irgendwie schauen, wie sie weiterkommen. Und es gibt andere, die sich in ihrer Organisation sehr engagieren. Am engagiertesten war die LGBTQ-Community. Die Karawane ist ein temporäres Kollektiv - und eine emotionale Achterbahnfahrt. Man ist oft vollkommen fertig mit den Nerven, hat Hunger und ist schlecht gelaunt, wenn kein Lkw anhält. Aber in dem Moment, wo ein Lkw anhält, ist man auf einmal wieder euphorisch. Denn dann schafft man 200 Kilometer. Wie bei vielen kollektiven Prozessen ist es eine Gratwanderung zwischen Solidarität und Egoismus. Aber auch wenn die Zukunft ungewiss ist, sind alle erleichtert, dass sich endlich was ändert an ihrer Situation.
Für Lilian war diese lange Wanderung auch eine Art Emanzipationsbewegung, oder? Denn sie verlässt ja in Guatemala den Mann, der sie und ihre Kinder bedroht und geschlagen hat.
Ja. Das ist so bei vielen Frauen in der Karawane. Man sagt immer: die Armen, die müssen in der Hitze laufen. Doch sie haben eine große Energie. Das haben wir gespürt auf dieser ganzen Reise. Lilian kommt aus Guatemala, wo es keine Frauenhäuser gibt und auch sonst keine richtige rechtliche Unterstützung für Frauen, die vor häuslicher Gewalt fliehen. Ihre einzige Chance ist: das Land zu verlassen. Denn innerhalb Guatemalas würde ihr Ex sie immer finden. Doch alleine einfach loslaufen, ist viel zu gefährlich, weil du sofort in Menschenhandel-Ketten reingerätst. Die Karawane ist ihre Möglichkeit, ihr Leben zu verändern. Und sie baut so viel Mut und Kraft auf, dass sie am Ende sagt: Ich brauche keinen Typen, ohne bin ich besser dran. Auf der ganzen Reise wurde sie mit jedem Meter gen Norden selbstbewusster.
Kommt Lilian vom Dorf oder aus der Stadt?
Vom Dorf. Sie hat in einer Fabrik gearbeitet, in der sie Shrimps geschält hat. Und das wenige Geld, das sie damit verdiente, hat ihr Mann kontrolliert.
Wie sind Sie auf das Thema gekommen?
Ich habe lange in Zentralamerika gelebt. Ich war viel in Chiapas unterwegs und habe für Menschenrechtsorganisationen gearbeitet in Guatemala, Mexiko, Nicaragua und Honduras. In Guatemala für eine Organisation, die Zeug*innen für den Völkermord der Militärdiktatur in den 1980ern suchen und unterstützen. Guatemala wird wirtschaftlich von 14 Familien kontrolliert. Jeder politische Widerstand wird im Keim erstickt. Als ich von den Karawanen gehört habe, konnte ich sofort verstehen, dass sich die Leute zusammenschließen, um abzuhauen. Auf gewisse Weise ist das ein Symbol für die arbeitende Bevölkerung, denn jede*r Einzelne weiß: Sie können nur zusammen weiterkommen.
»Lo que queda en el camino«, Regie: Jakob Krese, Danilo do Carmo. Brasilien / Deutschland / Mexiko 2021, 93 Min.Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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