- Gesund leben
- Psychische Gesundheit
Gefährliches Hungern
Magersucht kommt auch im Erwachsenenalter vor. Weil sich Betroffene isolieren, fehlen genaue Zahlen
War bisher vor allem von jungen Mädchen die Rede, wenn es um Magersucht ging, ist heute klar: Immer mehr ältere Frauen sind betroffen. Bei Brigitte Gerber (Nachname geändert) war der Verlust ihres Partners der Trigger. Dann kamen die Wechseljahre dazu und eine unterschwellige Angst vor dem Älterwerden. Sie fühlte sich immer unwohler in ihrem Körper und reduzierte kontinuierlich ihren Speiseplan. Dabei achtete die 48-Jährige auf fett- und kalorienarme Nahrungsmittel. Nach wenigen Wochen passierte das, was viele Betroffene kennen. Brigitte verlor das Gefühl für normales Abnehmen und gefährlichen Nahrungsentzug. Eine Magersucht übernahm die Macht. Täglich stand das eine Thema über allem: «Was esse ich, wie viel esse ich, wann esse ich, esse ich überhaupt, was esse ich in Anwesenheit anderer?» Das kostete Energie und die letzte Lebensfreude.
Starker Gewichtsverlust, der zu anhaltendem Untergewicht führt, ist laut Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung ein typisches Merkmal für eine Magersucht. Die Betroffenen haben permanent Angst zuzunehmen. Trotz Untergewicht nehmen sie sich als zu dick wahr und schränken ihre Nahrungsaufnahme immer weiter ein. Nach Erhebungen des Statista Research Department wurden 2018 nicht weniger als 7218 Magersüchtige in deutschen Krankenhäusern behandelt. Für den gleichen Zeitraum hatte das Institut 46 Todesfälle infolge einer Essstörung wie Anorexie, Bulimie oder Binge Eating (exzessives Essen) verzeichnet; davon waren 30 auf Magersucht zurückzuführen.
Einige psychische Erkrankungen sind noch immer mit Scham behaftet, darunter auch die Anorexie. Vor allem Erwachsene mit einer Spätanorexie, wie Magersucht nach dem 25. Lebensjahr genannt wird, sind häufig dem Klischee ausgesetzt, ihr Leben nicht im Griff zu haben. Kein Wunder also, dass ältere Betroffene nicht über ihre Krankheit reden möchten. Das ist einer der Gründe dafür, dass es keine genauen Zahlen außerhalb der stationären Behandlungen gibt.
Nach Hochrechnungen der Barmer Ersatzkasse waren im Jahr 2016 insgesamt 93 000 Personen in Deutschland wegen einer Anorexia nervosa in Behandlung. Aufgeschlüsselt ergab sich, dass 93 Prozent davon weiblich waren und fast jede Dritte älter als 40 Jahre. Für den Zeitraum von 2011 bis 2016 hatte die Krankenkasse bei der Zahl der über 40-jährigen Betroffenen eine Zunahme von 19 Prozent errechnet.
Die 33-jährige Lea Gericke führt die Zunahme auch auf die «Pro Ana»-Seiten im Internet zurück. Mit dem Titel ihres Buches «Ana dismissed» - Ana leitet sich von Anorexie ab und dismissed heißt etwa «weggehen lassen» - spielt sie auf die Vielzahl von Frauen und Mädchen an, die sich von dem sektenhaft-religiösen Forum «Ana» zum Hungern verleiten lassen. Eines der Beispiele für die toxischen Tipps der fiktiven «Ana», die diese ihren Anhängerinnen aus dem Internet zuruft, könnte kaum zynischer sein: «Iss doch Watte, Moppelchen!»
Solche Anleitungen findet auch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend besorgniserregend und warnt: «Das Gefährliche an den Pro-Ana-Foren liegt in den schon fast konspirativen Zügen, die vorgeben, in eine Gemeinschaft eingebunden zu sein, die als Stütze erlebt wird, aber letztlich krankheitserhaltend ist.»
Lea Gericke war selbst über zwölf Jahre magersüchtig. Als sie nur noch 27 Kilogramm wog, wurde sie über eine Magensonde ernährt und hat es geschafft, sich aus den Klauen der Krankheit zu befreien. Jetzt hilft sie anderen, die an Essstörungen leiden. Dafür hat die beherzte Berlinerin einige Selbsthilfegruppen unter dem Dachverband SEKIS gegründet, darunter eine für Betroffene ab 40 Jahren. Diese Kontakt- und Informationsstellen arbeiten mit der AOK Nord zusammen. Ältere Magersüchtige trauen sich allerdings bisher nur zögerlich, die Angebote zu nutzen.
«Bei zehn Teilnehmern in der Gruppe ist durchschnittlich eine über 40», sagt Lea Gericke. Viele Magersüchtige lebten sozial zurückgezogen. Sie seien ohne Elan oder einfach kraftlos. Ein Body-Maß-Index (BMI) unter 17,5 gilt bislang als ein Symptom der Magersucht. Viele Betroffene liegen sogar noch darunter. Das hat besorgniserregende Folgen wie Blutarmut, Ausbleiben der Regelblutung, Osteoporose, trockene Haut, brüchige Nägel, Haarausfall, Herzrhythmusstörungen, Verdauungs- und nicht zuletzt Kreislaufprobleme.
Die auf Essstörungen spezialisierte deutsch-amerikanische Ärztin und Psychoanalytikerin Hilde Bruch hat das Grundproblem für diese körperlichen Symptome in ihrem 1982 erschienenen Buch «Der goldene Käfig» so beschrieben: Magersüchtige Kinder wüchsen nicht selten in gut gestellten Familien auf, in denen ehrgeizige, bildungsorientierte Väter den Ton angeben und aufopferungsvolle, aber auch leistungsorientierte Mütter das Kind verwöhnen. Offene Gespräche über Probleme seien in diesen Familien eher tabu. Dieses manipulative, dysfunktionale Verhalten lasse sich häufig in der Lebensgeschichte Magersüchtiger entdecken. Regelmäßig berichteten Betroffene, dass sie als Kind gleichsam nicht gehört oder gesehen und schon gar nicht anerkannt oder bestätigt wurden. Symptome wie Ich-Spaltung, schwere Ich-Defekte oder Depersonalisierung, die sich daraus ergeben könnten, stünden in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Hungern selbst. Erst wenn die schlimmsten Auswirkungen der Unterernährung gemildert sind, lässt sich eine sinnvolle psychiatrische Einschätzung und Bewertung vornehmen.
So sinnvoll es ist, die Eltern in eine Therapie einzubinden, bei älteren Betroffenen ist es eher selten möglich. Dennoch treffe das Elternthema auch auf ältere Erkrankte in den 40ern, 50ern und 60ern zu, versichert Manfred Jannicke, Geschäftsführer des freien Trägers NHW (Nachbarschaft hilft Wohngemeinschaft). «Wenn die Mutter oder die Großelterngeneration schon eine Essstörung hatte, steckt das in den Genen», sagt er. Aber nicht nur: Die generationenübergreifende Vererbung werde über familiäre Strukturen sowie das Verhalten und die Kommunikation weitergegeben.
«Wir wissen, dass es eine große Anzahl erkrankter Frauen jenseits der Pubertät gibt, die mit einer Essstörung in ihrem aktuellen Leben umgehen müssen. Bei älteren Erkrankten seien Lebenskrisen häufig der Trigger, der Verhaltensweisen aus der Kindheit oder Jugend, häufig in der Nachkriegszeit, wachruft. Meist würden sich die Betroffenen dann isolieren. »Deshalb wollen wir auch für erwachsene Betroffene ein angemessenes Wohnangebot bereithalten,« sagt Jannicke.
Christiane Waller, Leiterin der Psychosomatischen Station im Klinikum Nord in Nürnberg, führt seit Längerem gezielte Therapien für ältere Magersüchtige durch. »Früher hat man da einfach nicht hingeschaut«, sagt sie. Für eine später auftretende Anorexie sei die Prognose deutlich günstiger, versichert die Ärztin: »Bei langjährigen Anorexien spricht man nicht von Heilung, sondern von chronischen Erkrankungen mit chronischem Untergewicht, das bis ins höhere Lebensalter anhält.«
1873 bekam die Krankheit erstmals den Namen Anorexia nervosa. Hungernde Mystikerinnen, die durch den Nahrungsentzug Visionen hatten, galten als Faszinosum. Inzwischen lösen eher Dauerdiäten, dürre Models oder Instagram-Stars eine Faszination aus, die zu gefährlichem Hungern verführen kann. Im Grunde sei eine Magersucht ein Suizid auf Raten, sagt Lea Gericke. Anorexia nervosa gilt als psychische Erkrankung mit der höchsten Mortalitätsrate. Menschen mit Magersucht haben ein 18-fach höheres Risiko, sich das Leben zu nehmen.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.