- Kultur
- Ukraine-Krieg
Leichensäcke für Supermänner
Nicht die Mutigen, die Feigen sind es, die Kriege beenden. Eine Kritik des Heldentums, das im Ukraine-Krieg gerade wieder alle feiern
Der Anblick der Folterinstrumente war zu viel. Galileo Galilei widerruft vor der päpstlichen Inquisition und erklärt die eigene Lehre zum Irrtum. Für seinen treuesten Schüler ist der große Naturforscher nun ein charakterloser Feigling. »Unglücklich das Land, das keine Helden hat!«, lauten die Worte, die der Student Andrea dem Lehrer in Bertolt Brechts Drama »Leben des Galilei« vorwirft.
Ein Held - verdächtig oft in der aktuellen Ukraine-Krise begegnet einem dieses gewichtige Wort. Vor allem in Bezug auf Wolodymyr Selenskyj, den Präsidenten des Landes. Die USA, heißt es, hätten ihm angeboten, ihn rechtzeitig vor der russischen Invasionsarmee in Sicherheit zu bringen. Doch Selenskyj wollte in der umkämpften Hauptstadt Kiew ausharren, um die Verteidigung gegen die gegnerische Invasionsarmee zu organisieren. Damit, so zum Beispiel die »Süddeutsche Zeitung«, sei der Staatschef nicht nur zu einer »moralischen Instanz« geworden, sondern belebe auch »die Figur des Helden« wieder.
Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann
Der Begriff der »Figur« liegt dabei genau richtig. Tatsächlich ist der Aufstieg des ukrainischen Präsidenten zum Widerstandsidol das Ergebnis einer medialen Konstruktion. Heroisch wird man durch den kommunikativen Prozess der Heroisierung. Als ehemaliger Schauspieler und Fernsehproduzent kennt Selenskyj die mitreißende Kraft der Bilder, die er selbst erzeugt, wenn er sich in militärischem Olivgrün mit der Smartphone-Kamera vor bombenbedrohter Kiew-Kulisse filmt: Seine Tweets stiften damit zugleich andere zum Mut an und bescheren den Freiwilligenverbänden, die der anrollenden Übermacht entgegentreten, Zulauf.
Der Held gehört zu den elementarsten Kategorien einer Literatur, die sich in ihren historischen Anfängen zumeist um die Lobpreisung kriegerischer Akteure drehte. Wie Odysseus, Achilles oder die anderen homerischen Haudegen. Mittlerweile haben wir diese militärischen Wurzeln des Heldenbegriffs nur zu gern verdrängt. Weil auch die Dichtung seit Langem schon andere Dinge besingt als Tötungsabenteuer und Eroberungstaten, bevorzugt die moderne Literaturwissenschaft den neutralen Terminus des Protagonisten für die Hauptperson eines Textes.
Unsere von manchen als postheroisch bezeichnete Zivilgesellschaft indes hält am Begriff des Helden fest, erweitert seine Bedeutung aber weit über das Soldatische hinaus. Als Deutschlands Fußballer noch richtig viele Tore schießen konnten, waren sie »WM-Helden«. Gesundheitsarbeiter*innen oder Impfstoff-Forscher*innen wurden in der Pandemie zu »Corona-Held*innen«. Alle so Geehrten eint eine zumindest kurzfristige mediale Präsenz. Vor diesem Hintergrund lässt sich Andy Warhols berühmte Prognose verstehen, wonach die Zukunft jedem Menschen einmal 15 Minuten Berühmtheit garantiere.
Das Narrativ vom »Alltagshelden« wird nicht zuletzt von True-Crime-Formaten wie der ZDF-Sendung »Aktenzeichen XY … ungelöst« benutzt. Der »XY-Preis« zeichnet Bürger*innen aus, die in brenzligen Situationen Zivilcourage bewiesen haben. Sagen will uns das: Ein heroischer Habitus schlummert potenziell in einem jeden Normalmenschen.
Auch die DDR kannte den Ehrentitel »Held der Arbeit«. Denn nicht nur dem Kapitalismus bietet das Konzept des Heldentums alles, was ein komplex organisiertes kollektives System braucht, um seine Maschinerie am Laufen zu halten: körperliche oder geistige Qualifikationen, Durchhaltevermögen und die Bereitschaft, sich aufzuopfern. Gewiss, im Konfliktfall kritisiert oder marginalisiert man gern die Supermänner und -frauen der anderen. Die Held*innen der einen sind die Verbrecher*innen der anderen. Der prinzipielle ethische Wert des Heldentums hingegen genießt ideologieübergreifende Anerkennung. Wird er deshalb auch nie infrage gestellt?
Spätestens wenn es nicht mehr um Sport oder Wissenschaft, Krankenpflege oder vereitelten Handtaschenraub geht, sondern um Krieg, zeigt sich die hässliche Fratze des heldenhaften Eintretens. Dann nämlich wird aus der Formel »Ruhm gegen erbrachte Leistung« plötzlich ein »Ruhm gegen Leben«. Sogenannte Heldenfriedhöfe oder nationale Totentage zeugen davon.
Genau diesen Mechanismus legt Brechts Wissenschaftlerdrama offen. Galileos berühmte Entgegnung auf den Vorwurf des enttäuschten Schülers Andrea bringt es auf den Punkt: »Unglücklich das Land, das Helden nötig hat.« In dem Satz wirkt ein dialektischer Scharfsinn, der jede todesverachtende Kampfbereitschaft aushebelt, egal für welche Sache sie sich in die Schlacht wirft. Die vermeintlich resignative Replik des Dramen-Galileos beinhaltet vielmehr die klare Handlungsanweisung an die Nachgeborenen, es niemals so weit kommen zu lassen, dass nur noch die Mutigen uns helfen können. Dann ist es nämlich für einige der Mutigen schon zu spät.
Landläufig klingt »Held« wie »Sieger«, obschon sich diese Gleichsetzung mindestens im militärischen Bereich als fataler Irrtum erweist. Überproportional häufig folgen junge Männer und Frauen aus bildungsfernen Schichten dem Versprechen des Soldatenberufs auf ökonomische Teilhabe und das soziale Prestige des Heldentums. Insofern muss man Donald Trump fast schon wieder dankbar sein, dass er diesbezüglich eine zynische Wahrheit ausgeplaudert hat. 2018 soll der damalige US-Präsident bei der geplanten Besichtigung einer amerikanischen Gefallenenstätte aus dem Zweiten Weltkrieg gesagt haben: »Warum sollte ich diesen Friedhof besuchen? Er ist gefüllt mit Verlierern.« Sozioökonomisch stimmt das leider.
Auch auf den Straßen von Kiew verbluten weder Russlands Oligarchensöhne noch die Kinder ukrainischer Investmentbanker. Sondern diejenigen, die an den Symbolismus einer nationalen oder individuellen Freiheit glauben, aber für die wirtschaftliche Freiheit anderer sterben. In der kalten Ökonomie des Opfers ist der Held die rhetorische Figur, die das religiöse Modell des Märtyrertums ablöst und attraktiver gestaltet. Ein Held ergibt sich nicht kampflos, man wird ihm Statuen errichten, patriotische Filme über ihn drehen, Straßen nach ihm benennen. Er existiert weiter im kollektiven Gedächtnisraum.
»Lieber stehend sterben als kniend leben«, schrieben sich bei den Corona-Protesten die erstaunlich putinfreundlichen Querdenker auf die Pappkartons. Dem wurde schon damals (sogar von liberaler Seite) eine Abwägung entgegengehalten, die bei jedem Einsatz für Freiheitswerte zu berücksichtigen ist: Der Leichensack bedeutet die maximale Unfreiheit. Jede andere Behauptung ist politische Theologie.
Deshalb drängt sich mehr denn je die defätistische Frage auf: Brauchen wir statt Helden mehr Antihelden, statt Tapferkeitsorden Feigheitsmedaillen? Leute, die das berühmte »Nein« sagen, die Kalaschnikow oder die Panzerfaust in den Schlamm werfen und das Weite suchen? Reziprok zur Feier des Tapferen erfolgt eine Ächtung und Bestrafung der Fahnenflüchtigen. Sogar verurteilte Deserteure aus der Nazi-Zeit mussten in der Bundesrepublik bis 2002 darauf warten, juristisch rehabilitiert zu werden. In der Haut erwischter russischer Armeeflüchtlinge möchte derzeit niemand stecken. Was mit einem Ukrainer passiert, der sich über das Ausreiseverbot für Männer unter 60 hinwegsetzt, ist ebenfalls unklar.
Möglich, dass der Waffenverweigerer ein größerer Angsthase ist als der vermeintliche Held, der seinen zusammenbrechenden Gefechtsstand bis zur letzten Patrone verteidigt. Ein Blick in die Militärgeschichte offenbart allerdings, dass es häufig größere Desertationsbewegungen waren, die das Ende eines Krieges einleiteten. Nicht die Mutigen, die Feigen bringen den Frieden.
Lebhaft erinnere ich mich in diesem Zusammenhang an meinen aufrichtig pazifistischen Deutschlehrer auf dem Kleinstadt-Gymnasium. Ungefähr zu jener Zeit, als wir Brechts »Galilei« im Unterricht lasen, füllte er für die Schülerzeitung den berühmten Marcel-Proust-Interviewbogen aus. Auf die Frage: »Welche militärischen Leistungen bewundern Sie am meisten?« antwortete er: »Das Unterschreiben von Kapitulationsurkunden.«
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.