Der Druck ist raus

Ein Schüler aus Hohenschönhausen ist freiwillig sitzengeblieben - und stolz auf sich

  • Rainer Rutz
  • Lesedauer: 6 Min.
Auszeit in Hohenschönhausen: Der 15-jährige Luke vor der »Skyline« der Großwohnsiedlung am Ostberliner Stadtrand
Auszeit in Hohenschönhausen: Der 15-jährige Luke vor der »Skyline« der Großwohnsiedlung am Ostberliner Stadtrand

Luke ist durchaus stolz auf sich. »Das Jahr war gut«, sagt der 15-jährige Schüler aus Hohenschönhausen und kramt sein letztes Halbjahreszeugnis hervor. Und zum Vergleich das Vorjahreszeugnis. Ja, in Mathe ist es bei einer Vier geblieben. Aber ob in Deutsch, Chemie oder Musik: Überall Zweien und Dreien, wo vor einem Jahr lauter Vieren und Fünfen standen. »Ich kann das zwar noch besser. Aber mit den Noten bin ich zufrieden«, sagt Luke.

Zwei Jahre Schule und Corona

Am 13. März 2020, einem Freitag, entscheidet die Senatsbildungsverwaltung, dass am darauffolgenden Dienstag, dem 17. März, alle allgemeinbildenden Schulen aufgrund des Coronavirus geschlossen werden. Der erste Schul-Lockdown beginnt. Die berlinweite Gesamtzahl der Infektionen liegt am 13. März bei 158.

Ab dem 27. April 2020 kehren zunächst die 10. Klassen zurück, im Laufe des Mai nach und nach alle anderen Jahrgangsstufen. Unterrichtet wird im Schichtsystem in reduzierten Klassengrößen.

Mit Beginn des Schuljahrs 2020/2021 am 10. August 2020 starten die Schulen wieder im Regelbetrieb. Die Bildungsverwaltung beruft wenige Tage später einen Hygienebeirat ein, der künftige Corona-Regelungen maßgeblich mitbestimmt.

Am 8. Oktober 2020 wird der erste »Corona-Stufenplan für die Schulen« vorgestellt. Er tritt Ende Oktober in Kraft. In der Folge wird er häufiger für Unmut sorgen.

Ab 7. Dezember 2020 treten zunächst komplizierte Neuregelungen in Kraft, wann welche Klassenstufen an welchen Schulen ab einer Sieben-Tage-Inzidenz von 200 in den Wechselunterricht gehen.

Kurz vor den Weihnachtsferien gehen am Mittwoch, dem 16. Dezember 2020, alle Schulen in den zweiten Schul-Lockdown. Das »Schulisch angeleitete Lernen zu Hause« ist geboren. Es folgt eine zum Teil lange Phase Distanzunterricht.

Ab 22. Februar 2021 kehren - bei ausgesetzter Präsenzpflicht - nach und nach Jahrgangsstufen zurück in den Wechselunterricht, zunächst die Grundschüler, sehr spät, zum 19. April, auch die Siebt-, Acht- und Neuntklässler.

Am 9. Juni 2021 heißt es für alle Schulen wieder: Regelbetrieb in vollen Klassen, die Präsenzpflicht bleibt ausgesetzt, zwei Wochen später beginnen die Sommerferien.

Beim Regelbetrieb bleibt es auch im Schuljahr 2021/2022, das am 9. August beginnt. Es gilt wieder Präsenzpflicht. Zusätzlich kehrt der »Stufenplan« zurück, abermals wird er für viel Ärger sorgen.

Zum 4. Oktober 2021 wird die Maskenpflicht an den Grundschulen kassiert. Einen Monat später muss die Entscheidung aufgrund der stark ansteigenden Inzidenzen wieder zurückgenommen werden.

Nachdem die Gesundheitsämter die Kontaktnachverfolgung an den Schulen eingestellt haben, wird zum 25. Januar 2022 die Präsenzpflicht wieder ausgesetzt. Die Regelung ist bis zum 28. Februar befristet und wird nicht verlängert.

Die berlinweite Gesamtzahl der gemeldeten Infektionen liegt am 13. März 2022 bei 798 810. Allein in den vergangenen sieben Tagen sind 28 085 Fälle neu erfasst worden. Die tatsächliche Zahl ist unbekannt. Es wird über die Abschaffung der Maskenpflicht an den Schulen diskutiert. rru

Es ist nicht das erste Mal, dass »nd« den Teenager im Laufe der seit zwei Jahren andauernden Pandemie trifft - zuletzt während des großen Schul-Lockdowns vor einem Jahr, als Luke mit Frust und Langeweile zu kämpfen hatte. Davon ist nichts mehr zu spüren.

Damals wie heute besucht Luke die neunte Klasse einer Integrierten Sekundarschule. Er dreht in diesem Schuljahr eine »Ehrenrunde« und wiederholt die Klasse - das aber aus freien Stücken. Denn Luke ist einer von insgesamt 825 Berliner Schülern, die im vergangenen Jahr von der Gelegenheit Gebrauch gemacht haben, die Klassenstufe unkompliziert zu wiederholen, ohne dass das auf die Gesamtschulzeit angerechnet wird. Hierfür genügte letztlich ein Antrag der Erziehungsberechtigten. Das dazugehörige Beratungsgespräch mit der Schule war eine reine Formsache, unabhängig vom Ausgang musste dem Antrag stattgegeben werden. »Als ich vor einem Jahr dieses Zeugnis hatte, habe ich gesagt: Das ist kein Zeugnis, mit dem ich mich schmücken kann. Ey, nein, das mache ich einfach nochmal«, erinnert sich Luke.

Tatsächlich ist das Einfach-nochmal-Machen so im Berliner Schulgesetz nicht vorgesehen. In der Regel wiederholen Schüler das Jahr unfreiwillig, weil sie aufgrund schlechter Noten nicht versetzt werden, an Sekundarschulen ist selbst das nicht beabsichtigt. Anträge auf freiwillige Wiederholungen können zwar gestellt, müssen aber von der Schulleitung keinesfalls genehmigt werden. Nicht so im vergangenen Jahr, als den Schulen aufgrund der pandemiebedingten Lernprobleme die Entscheidungshoheit in diesem Fall entzogen wurde. So hatte es das Abgeordnetenhaus im Februar 2021 beschlossen.

Die Schulleiter liefen Sturm gegen den Beschluss. Auch die FDP malte den Teufel in Form eines »unkontrollierten Schulchaos« mit »übergroßen und übervollen Klassen« zum Schuljahresbeginn im Sommer 2021 an die Wand, wenn plötzlich jede und jeder der über 400.000 Berliner Schülerinnen und Schüler freiwillig »sitzenbleiben« kann.

Zuletzt waren es aber eben doch nur 825 freiwillige Wiederholer. »Das ist nicht besonders auffällig«, sagt Martin Klesmann, Sprecher der Senatsbildungsverwaltung, zu der Zahl. »Im Nicht-Corona-Schuljahr 2018/2019 waren es 558 freiwillige Wiederholer, obwohl das freiwillige Wiederholen seinerzeit nicht ausdrücklich als Option öffentlich dargestellt worden ist.« Zugleich stellt der Sprecher von Bildungssenatorin Astrid-Sabine Busse (SPD) klar, dass es sich bei der Regelung im vergangenen Jahr um eine einmalige Ausnahme gehandelt habe. Derzeit, sagt Klesmann zu »nd«, sei »nicht daran gedacht, dass freiwillige Wiederholen generell zu erleichtern«. Stattdessen habe »die individuelle Förderung von Schülern« Vorrang.

Darüber, dass seinerzeit so ein Wirbel um die Sonderregelung für das Schuljahr 2020/2021 gemacht und gar vor dem »Verlust eines ganzen Lebensjahres« gewarnt wurde, kann Luke heute nur lachen. Für ihn stellte sich die Möglichkeit, die Klassenstufe zu wiederholen, als Glücksfall heraus. Und nicht nur für ihn: Von den 28 Schülern seiner damaligen Klasse wiederholen drei das Schuljahr. »Wir sind eine Clique«, sagt Luke. »Der Plan war, dass wir dann alle in eine Klasse kommen.« Das habe nicht geklappt. »Aber das ist mir dann auch egal gewesen.«

Luke sagt, wichtig sei für ihn vor allem der bessere Notenschnitt. »Ich hatte ja schon mal einen Zweier-Durchschnitt, und das möchte ich jetzt wieder haben. Das ist der Jahresplan, den ich habe.« Macht ihm die Schule Spaß? Kurze, klare Antwort: »Ja.« Auch seine beiden Freunde, die ebenfalls die Klassenstufe wiederholen, hätten das Gefühl, »dass es so viel entspannter ist, weil man den Stoff wiederholt, wo man sagt, das habe ich hier am Computer überhaupt nicht verstanden«.

Als »nd« Luke im März 2021 in der kleinen 60-Quadratmeter-Wohnung in der Großwohnsiedlung am Ostberliner Stadtrand besucht hatte, war genau das das Problem: Der »Schulisch angeleitetes Lernen zu Hause« genannte digitale Ersatzunterricht kam bei ihm ohne den Bestandteil »schulisch angeleitet« aus. Er saß mit dem Lernstoff allein zu Hause, und das als Schüler der Mittelstufe länger als alle anderen. Von Dezember 2020 bis Mitte April 2021 zog sich damals die zweite Homeschooling-Phase für die Siebt-, Acht- und Neuntklässler hin. Wie im Jahr zuvor war Lukes Jahrgangsstufe auch diesmal wieder die letzte, die - seinerzeit freilich im Wechselmodell - zurück in den Präsenzunterricht geholt wurde.

Auch Lukes jüngere Schwester hatte sich damals entschlossen, die siebte Klasse zu wiederholen. »Es ist gut, dass beide jetzt noch einmal durchstarten. Wir haben ja viel darüber nachgedacht. Aber dieses Homeschooling lief für uns einfach nicht«, berichtet der Vater von Luke. Auch die Schwester habe nun wie vor Corona wieder ein Zweier-Zeugnis. »Dieser Druck ist raus«, sagt der Vater. Und: »Wir haben dieses Jahr jetzt einfach als Auszeit angenommen.«

Nach der langen Phase der Daheimbeschulung - inklusive strukturlosem Tagesrhythmus - habe sich »das Soziale« in seiner alten Klasse verändert, berichtet Luke. »Ich weiß nicht, wahrscheinlich durch dieses ganze Zuhause-Rumhocken, aber das war alles nicht mehr so wie früher. Die Stimmung zum Schluss war richtig sauer.« Seine Klassenkameraden von damals würden ihm berichten, dass sich die Laune bis jetzt nicht gebessert habe. Zumal viele mit dem Stoff immer noch nicht hinterherkämen. »Da bin ich doch sehr froh, dass ich diese Probleme nicht habe.«

Hinzu komme, dass er im Zuge der Jahrgangswiederholung auch andere Lehrkräfte zugeteilt bekommen habe. »Meine neue Lehrerin, das muss man einfach sagen, die kümmert sich um die Schüler. Wenn man mal zwei Tage nicht da ist zum Beispiel, dann kriegt man einen Anruf: ›Ja, was ist denn los? Wo bist du denn?‹ Da war ich anfangs sehr erstaunt. Das kannte ich vorher gar nicht. Da hat sich kaum jemand gekümmert.«

Anders als im letzten Winter ist Luke inzwischen fast nur noch unterwegs. Er engagiert sich bei der Freiwilligen Feuerwehr, hat im vergangenen Jahr die Gruppe Stadtrand Ost der Linksjugend Solid mitaufgebaut, organisiert Aktionen gegen »Querdenker«, gegen Neonazis, hat gerade begonnen, seinen Motorradführerschein zu machen, trifft sich mit Freunden - und: »Ja klar, ich zocke natürlich immer noch.« Bei der ersten Begegnung mit »nd« im Januar 2021 war das »Gamen« noch Lukes tägliche Hauptbeschäftigung. Heute sagt er: »Ich habe eine durchstrukturierte Woche.« Nicht zuletzt »die Parteiarbeit«, wie er seine Arbeit für den linken Jugendverband nennt, »frisst viel Zeit«.

Es ist jetzt genau zwei Jahre her, dass die Schulen erstmals flächendeckend dichtgemacht wurden. Im Rückblick sagt Luke auch: »Das war nicht so schlimm. Man konnte plötzlich so viel machen, die Welt erkunden, während draußen alles stillstand.« Deshalb seien es, für ihn wenigstens, auch keine »zwei verlorenen Jahre« gewesen: »Es sind zwei Jahre, die gehören halt dazu, die sind ein Teil von uns geworden. Und zum Teil waren es ja auch zwei sehr freie Jahre. Wo es auch viele Hochs und Tiefs gab. Erinnern tue ich mich aber gerade nur an die schönen Sachen.«

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