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  • Pflegekinder aus der Ukraine

Sie fühlen sich schuldig. Weil sie überlebt haben

Pflegekinder aus der Ukraine konnten zwar evakuiert werden. Viele sind aber traumatisiert

  • Philipp Hedemann, Biłgoraj
  • Lesedauer: 7 Min.
Ina Shcherbak arbeitet als Sozialarbeiterin bei SOS-Kinderdörfer.
Ina Shcherbak arbeitet als Sozialarbeiterin bei SOS-Kinderdörfer.

»Das Auto vor uns wurde von einer Granate getroffen. Alle Menschen, die darin saßen, waren tot. Auf uns wurde auch geschossen. Aber irgendwie hatten wir Glück. Wir wurden nicht getroffen und haben es lebend rausgeschafft.« Wenn Veronica von ihrer Flucht aus der seit Tagen unter russischem Beschuss liegenden Stadt Irpin bei Kiew berichtet, steigen ihr Tränen in die Augen. Die 20-Jährige, die in einem SOS-Kinderdorf in Browary bei Kiew aufwuchs, schlug sich zusammen mit vier Freunden auf eigene Faust an die ukrainisch-polnische Grenze durch. Mittlerweile lebt sie im SOS-Kinderdorf Biłgoraj, rund 80 Kilometer westlich der ukrainisch-polnischen Grenze. Dort kümmert sich eine Psychologin um die schwer traumatisierte Studentin. Die Kinderschutzorganisation hat seit Beginn des Krieges in der Ukraine rund 155 Kinder, Pflegeeltern und Mitarbeiter*innen nach Polen evakuiert. Doch in der Ukraine lebten vor Ausbruch des Krieges fast 100 000 Jungen und Mädchen in staatlichen Kinderheimen. Die Kinderschutzorganisation will jetzt möglichst viele von ihnen in Polen in Sicherheit bringen.

Spaß und Verantwortung

Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann

Wenn Veronica von ihrer lebensgefährlichen Flucht aus Irpin berichtet, lässt nicht nur die Erinnerung an die Stunden der Todesangst ihren Blick glasig und ihre Stimme zittrig werden. Auch ein Gefühl, das SOS-Kinderpsychologin Oksana Nasybullina Überlebensschuld nennt, macht der 20-Jährigen schwer zu schaffen. Seit ihrer Flucht aus Irpin beschleicht sie immer wieder das Gefühl der Schuld, weil sie selbst den Krieg in Irpin überlebt hat, während andere sterben. »Gerade habe ich erfahren, dass meine Nachbarn, mit denen ich noch gestern telefoniert habe, heute bei einer Explosion getötet wurden«, sagt Veronica und starrt an einem kalten Märztag im Garten des SOS-Kinderdorfes ins Leere. Als Sozialarbeiterin Ina Shcherbak Veronica in den Arm nimmt, um sie zu trösten, bricht die Sozialarbeiterin selbst in Tränen aus. »Ich habe in Browary bei Kiew mit jungen Erwachsenen wie Veronica gearbeitet. Viele von ihnen sind noch dort. Einige von ihnen wollen freiwillig gegen die Russen kämpfen. Viele von ihnen kann ich nicht mehr erreichen. Ich hoffe, sie leben noch.« Dann versagt Shcherbak Stimme wieder.

Valentina Maksymenko weiß, dass alle ihre neun Kinder in Sicherheit sind, dennoch muss auch sie oft mit den Tränen kämpfen. Im großen Wohnzimmer des Hauses, das sie im SOS-Kinderdorf Biłgoraj seit einigen Tagen mit ihren neun Pflegekindern im Alter zwischen sechs und 16 Jahren bewohnt, übt sie gerade mit den Jüngsten lesen. »Sie haben hier in Polen noch keine Schule, aber es ist wichtig, dass ich ihnen jetzt möglichst viel Normalität und Routine vermittle«, sagt die Pädagogin. Bis eine Woche vor Ausbruch des Krieges lebte sie mit ihren Pflegekindern im SOS-Kinderdorf in Brovary bei Kiew. Weil die Kinderschutzorganisation die Warnungen des amerikanischen Geheimdienstes CIA vor einem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine ernstnahm, brachte sie den Großteil der betreuten Kinder bereits Mitte Februar in eine Rehaklinik in Truskawez im vermeintlich sicheren Westen der Ukraine. Doch schon wenige Tage später gab es in der ganzen Ukraine keinen wirklich sicheren Ort mehr.

Die 20-Jährige Veronica erlebte eine traumatische Flucht aus der Ukraine.
Die 20-Jährige Veronica erlebte eine traumatische Flucht aus der Ukraine.

Maksymenko floh deshalb mit ihren Kindern drei Tage nach Kriegsausbruch ins 90 Kilometer entfernte Polen. »Sechs Stunden haben wir nachts bei Minustemperaturen an der Grenze gewartet. Die Kinder haben vor Kälte, Angst und Erschöpfung geweint. Es waren so viele Menschen dort. Ein zweijähriges Kind ist bei einer Massenpanik zu Tode getrampelt worden«, erzählt die Pädagogin. Während sie von der dramatischen Flucht berichtet und sich immer wieder die Augen reiben muss, spielen ihre Pflegekinder am Esstisch friedlich Uno, andere malen, immer wieder kommen sie zu ihrer Pflegemutter und zeigen ihr stolz, was sie für sie gemalt haben.

Valentina Maksymenko hat kein Problem damit, dass die Kinder dann sehen, dass ihre Augen gerötet sind. »Seitdem in unserem Land Krieg herrscht, haben die Kinder mich oft weinen sehen. Ich versuche, stark für sie zu sein. Aber sie wissen, dass auch ich während der Flucht große Angst hatte, dass auch ich unendlich traurig bin und dass auch ich mir große Sorgen um unsere Freunde und Verwandten in der Ukraine mache. Wir weinen oft zusammen«, erzählt die Pflegemutter.

Die meisten Tränen flossen, als ihre 15-jährige Pflegetochter Juliana erfuhr, dass ihre beste Freundin und deren Eltern vermutlich von russischen Soldaten erschossen wurden, als sie bei Browary Freunde mit Essen und Trinken versorgen wollten. »Es sind so schreckliche, sinnlose Tode. Wie kann man nur auf harmlose Kinder schießen? Wir werden morgen in der Kirche gemeinsam für Julianas getötete Freundin und ihre Familie beten«, erzählt die gläubige Frau.

Weil sie den Anblick ihrer weinenden Mutter nur schwer ertragen können, haben Maksymenkos jüngste Kinder beschlossen, einen Brief an den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj zu schreiben. Sie wollen ihn darin bitten, den Krieg so schnell wie möglich zu beenden, damit ihre Mutter nicht mehr weinen muss, damit nicht noch mehr unschuldige Kinder sterben müssen und damit sie bald in ihre Heimat zurückkehren können.

Oft wird die 54-Jährige von ihren Pflegekindern gefragt, warum es überhaupt zu dem Krieg kam, der sie zur Flucht ins benachbarte Polen zwang, sie nachts nicht schlafen lässt und sie aus Angst vor Beschuss bei jedem lauten Geräusch wie Türenschlagen zusammenzucken lässt.

Die SOS-Mutter sagt ihren Kindern dann: »Unser Land wurde grundlos angegriffen.« Einer ihrer ältesten Söhne würde sich deshalb am liebsten freiwillig der ukrainischen Armee anschließen, um gegen die Russen zu kämpfen. Maksymenko ist froh, dass Dima erst 15 Jahre alt ist und deshalb nicht rekrutiert werden darf. Wenn ihre Kinder sie fragen: »Mama, wann hört der Krieg endlich auf?«, antwortet sie: »Ich weiß es nicht. Hoffentlich sehr bald.« Doch an ein schnelles Kriegsende glaubt Maksymenko nicht.

Mit jedem weiteren Kriegstag gibt es weitere Tote und Verletzte und schwer traumatisierte Kinder. Schlaf- und Konzentrationsschwierigkeiten, Panikattacken, Verschlossenheit, Apathie, Bindungsängste, Depressionen oder gar Suizidgedanken - der Krieg hat bereits viele dunkle Schatten auf die Kinderseelen geworfen.

Oksana Nasybullina, die bis zum Ausbruch des Krieges als Kinderpsychologin im SOS-Kinderdorf in Browary gearbeitet hat, ist davon überzeugt, dass viele Kinder, die im Krieg psychisch erkranken, geheilt werden können. Mit Atemübungen gegen Panikattacken, Spiel-, Mal- und Gesprächstherapie versucht sie, Traumata zu bekämpfen, bevor sie sich als Neurosen manifestieren. Kindern, die in SOS-Kinderdörfern leben, haben ihrer Meinung nach bessere Chancen, dass der Krieg sie nicht dauerhaft seelisch krank macht. »Alle Kinder, die bei uns leben, hatten schon vor dem Krieg Schlimmes durchgemacht. Viele von ihnen haben häusliche Gewalt erlebt oder bei alkohol- oder drogensüchtigen Eltern gelebt. Diese Traumata haben wir teilweise schon mit ihnen aufgearbeitet. Unsere Kinder und wir wissen daher, dass man aus Katastrophen gestärkt hervorgehen kann«, sagt die Psychologin, die selbst nach fünf durchwachten Nächten unter Beschuss im Luftschutzbunker mit ihrer vierjährigen Tochter nach Biłgoraj geflohen ist,

Die Pädagogin Valentina Maksymenko versucht, ihren Pflegekindern Halt in der neuen Umgebung zu geben.
Die Pädagogin Valentina Maksymenko versucht, ihren Pflegekindern Halt in der neuen Umgebung zu geben.

Weil die meisten SOS-Kinder frühzeitig evakuiert wurden, sind nur wenige von ihnen unter Beschuss geraten. Doch andere Kinder haben über längere Zeit akute Todesangst ausgestanden oder mussten mit ansehen, wie Eltern oder Geschwister getötet werden. »Bei diesen Kindern besteht auch bei der besten Therapie die Gefahr, dass sie ihr Leben lang traumatisiert bleiben«, befürchtet die 43-jährige Psychologin.

Damit sie schnell in einem sicheren Umfeld psychotherapeutische Hilfe erhalten können, bemüht sich die Organisation, zusammen mit ukrainischen Partnerorganisationen möglichst viele Kinder möglichst schnell in Sicherheit zu bringen. Doch die Evakuierungen sind äußert riskant. »Die vereinbarten Fluchtkorridore sind nicht sicher. Die russische Armee missachtet fundamentale humanitäre Grundsätze und schießt sogar auf Helfende und fliehende Kinder, Mütter und Alte.

Es ist eine entsetzliche Katastrophe«, sagt Ela Janczur, Repräsentantin von SOS-Kinderdörfer für die Ukraine beim Besuch des polnisch-ukrainischen Grenzübergangs Hrebenne. Die Missachtung ausgehandelter Waffenstillstände zur Evakuierung von belagerten Städten führe dazu, dass Eltern vor die unmenschliche Wahl gestellt würden, teilweise ohne Nahrung, Wasser und Elektrizität mit ihren Kindern in Luftschutzkellern auszuharren oder sich mit ihren Töchtern und Söhnen auf die lebensgefährliche Flucht zu machen. »Es ist eine Entscheidung zwischen Todesgefahr und Todesgefahr«, so Janczur.

Die 20-jährige Veronica aus Irpin, die jetzt im SOS-Kinderdorf in Biłgoraj wohnt, hat sich für die lebensgefährliche Flucht entschieden. Sie hat überlebt. Die Menschen im Auto vor ihr nicht.

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