Lose Stränge

Italienisches Drama »Drei Etagen« von Nanni Moretti

  • Felix Bartels
  • Lesedauer: 6 Min.
»Drei Etagen« erzählt von vier Familien, die in einem Haus in einem wohlhabenden Stadtteil Roms leben.
»Drei Etagen« erzählt von vier Familien, die in einem Haus in einem wohlhabenden Stadtteil Roms leben.

Ein Haus, vier Familien, ein Todesfall. Das Setting ist bereits die halbe Miete. »Drei Etagen« - das klingt, als kommt da was; man denkt an »High-Rise« (2015) oder »Rear Window« (1954) und will gleich mehr wissen. An »Sliver« (1993) denkt man, zum Glück, nicht. Versprochen wird eine Bottle Story, ein Kammerspiel, Kosmos in einem Wohnhaus, etwas, dessen Größe im Bescheidenen liegt. Doch dann bekommt man mehr und also weniger.

Es ist seltsam, weil man diesen Film, der seine Stärken hat - im Szenischen und ganz besonders im Schauspiel -, eigentlich mögen möchte. Doch bereits im Konzept geht er, dessen Prämisse gar nicht so übel scheint, nicht auf. Er reißt die drei Aristotelischen Einheiten auseinander, was unter Umständen funktionieren könnte, hier aber nicht.

Die Einheit der Handlung wird vermöge des kleinen Ensembles streng eingehalten, die Einheit des Ortes angestrebt, zum Ende hin aber aufgelöst, die Einheit der Zeit dann sogar vorsätzlich konterkariert. Aus einem konzentrierten dramatischen Geflecht mit wenigen Personen im selben Haus wird eine auf zehn Jahre gedehnte Familiensaga oder vielmehr eine Seifenoper. Denn tatsächlich hat »Drei Etagen« ein Setting, wie man es aus dem TV-Format kennt: wenige Personen an wenigen Orten über eine sehr lange Zeit. Das definiert das Soap-Genre, das besonders streng etwa in der TV-Serie »Unter uns« realisiert ist, die man nicht mit »Über uns« verwechseln sollte (so nämlich heißt die von Eshkol Nevo verfasste literarische Vorlage für »Drei Etagen«). Seit 1994 spielt diese RTL-Soap in einem einzigen Haus, und (ich konnte es kaum glauben, als ich nachsah) sie läuft nach wie vor. Insofern erfreut doch, dass »Drei Etagen« für seine zehn Jahre nur 117 Minuten braucht.

Das Haus steht in einem wohlhabenden Stadtteil Roms. Auf drei Stockwerken leben vier Familien. Es ist Nacht, Sterne blinzeln, Tauben schnarchen, kein Weltkrieg weit und breit. Die Handlung beginnt mit einer Katastrophe. Die hochschwangere Monica betritt die Straße und zieht einen Rollkoffer hinter sich her, ein Auto rast an ihr vorbei, überfährt eine Passantin und steuert vollen Tempos in das Erdgeschoss des Hauses, wo es erst knapp vor der kleinen Francesca zum Stehen kommt. Die Eltern Lucio und Sara bringen das Mädchen für die Nacht bei einem alten Ehepaar gegenüber unter, während der Unfallort abgesichert und Andrea, der Fahrer des Autos, vernommen wird. Andrea bewohnt mit seinen Eltern Vittorio und Dora das oberste Stockwerk. Beide arbeiten als Richter, und als die Passantin an den Folgen des Unfalls stirbt, weigert sich Vittorio seine Beziehungen zu nutzen, um Andrea vor dem Gefängnis zu bewahren. Das latent zerrüttete Verhältnis zwischen Vater und Sohn bricht voll hervor.

Lucio schöpft derweil Verdacht, Renato, der alte Nachbar, könnte sich an Francesca vergangen haben. Obwohl die Polizei keine Indizien findet und ein psychologisches Gutachten wider die Vermutung zeugt, wird Lucio wie besessen von seinem Verdacht. Dabei gerät er in Verwicklungen, die ihn schließlich selbst in die Lage bringen, eines Verbrechens beschuldigt zu sein. Ihm widerfährt nun, was Renato durch Lucio widerfuhr. Monica hat unterdessen ihr Kind zur Welt gebracht, aber sie bleibt allein, weil ihr Mann Giorgio weite Teile des Jahres auf Dienstreise ist. Ihr fällt es schwer, Wirklichkeit und Einbildung auseinander zu halten, bis eines Tages Roberto auftaucht, Giorgios Bruder, auf den der nicht gut zu sprechen ist.

Was in dieser Synopsis bereits reichlich lose verknüpft klingt, erweist sich auch deswegen als kaum tragfähig, weil die drei Storys unterschiedlich stark sind. Die Monica-Fabel ist überaus schwach und könnte als eigene Erzählung nicht bestehen. Die Andrea-Fabel hat immerhin einen soliden Konflikt, der aber nicht wirklich entfaltet wird und wohl auch entfaltet nicht abendfüllend wäre. Allein die Lucio-Fabel hätte das Vermögen, ohne Weiteres einen Film zu füllen. Umso bedauerlicher daher, dass sie die Zeit mit den anderen beiden Handlungen teilen muss.

Im Andrea-Plot erkennen wir das klassische Thema der kindlich-jugendlichen Entwicklung. Das Kind muss, unvermeidlich von seinen Eltern geprägt, sich selbst wie ein Fremder gegenübertreten, um seine Entwicklung zu vollziehen. Es muss hassen, was es ist, um es (und sich) zu überwinden und schließlich es (und sich) wieder in sich aufzuheben.

Auch an Lucio sehen wir ein bemerkenswertes Motiv. Indem er den Nachbarn beschuldigt, handelt er im Interesse seiner Tochter, als fürsorglicher Vater. Deutlich aber wird bald, dass er mit dieser Art Fürsorge, einer bloß negativen (Schutz), kompensiert, was er an positiver Zuwendung (Liebe) zu oft fehlen lässt. Insofern ist die Nemesis, die ihn später ereilt, moralisch. Sie zeigt, dass die negative Fürsorge genau das spiegelt, wogegen sie antritt. Moralischer Sadismus trifft auf triebhaften.

Der Film packt nun einerseits dieses Wenige an Inhalt in viel zu viel Zeit. Aber dann sehen wir andererseits von dieser Zeit viel zu wenig. Nicht nur, dass er zwei große Sprünge macht, die jeweils fünf Jahre Geschehen auslassen. Auch in den kurzen Zeitabschnitten, die gezeigt werden, fehlt es an Vorgängen. Charaktere und ihre Entwicklungen werden immer bloß angerissen, harte Schnitte lassen uns von einem Zustand in den anderen springen, zwischen denen eigentlich wichtige Prozesse lagen. Man zappt eher durch das Haus, als seiner Handlung zu folgen, und irgendwie hat man den ganzen Film hindurch das Gefühl, zu spät gekommen zu sein. Damit korrespondiert dann auch der Score, der dem Zuschauer nicht bloß in jedem Moment vorschreibt, was er zu fühlen hat, sondern mit der beabsichtigten Wirkung oft zu früh am Platz ist. Nicht selten hört man die traurige Wendung einer Szene schon in den musikalischen Klängen, noch ehe die Wendung eintritt.

Auch die Beziehungen der drei Fabeln zueinander sind nicht gut entwickelt, notdürftig und immer nur via Zufall verknüpft. Warum zum Beispiel spielt nie wieder eine Rolle, dass Andrea Francesca bei seiner Alkoholfahrt fast getötet hätte? Und überhaupt: Wie interessant hätte das gesamte Geschehen werden können bei stärkerer Verflechtung der einzelnen Stränge? Wenn etwa ein Ereignis der einen Story eines in der anderen anstieße. Eine in ihrer Geschichte ratlose Person in der anderen zum Ratgeber würde. Ein Geschehen der einen Fabel das andere verdeckt forterzählte usw. Diese Sorte dramaturgischer Mittel wurde hier liegen gelassen. Und auch auf der Inhaltsebene, die ja jene Bindung verschaffen könnte, die die Handlung nicht herstellt, fehlt es an Einheit. Ein Thema, das sich über alle drei Fabeln setzen ließe, scheint es nicht zu geben. In der Synopsis heißt es zwar: »Während die Männer in ihrem Eigensinn wie gefangen erscheinen, versuchen die Frauen, die familiären Brüche zu kitten und ihren eigenen Weg zu gehen.« Doch hält der Film nicht einmal dem stand. Es sind zum Beispiel im zweiten Teil der Lucio-Fabel gerade die Frauen, durch die die Kollision vorangetrieben wird, während Lucio eine Entwicklung durchmacht.

»Drei Etagen«: Italien/Frankreich 2021. Regie: Nanni Moretti; Drehbuch: Nanni Moretti, Federica Pontremoli, Valia Santelli. Mit: Riccardo Scamarcio, Alba Rohrwacher, Nanni Moretti. 117 Min. Jetzt im Kino.

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