Wenn es Licht wird

Pjotr Pawlenski wurde gefeiert, solange seine Kunstaktionen auf den russischen Staatsapparat zielten. Seit er auch vor den Insignien der westlichen Macht nicht haltmacht, ist es still um ihn geworden

Pjotr Pawlenski, das ist der Mann mit dem zugenähten Mund. Der Mann mit dem abgeschnittenen Ohrläppchen. Mit dem am Boden festgenagelten Hodensack.

Der 1984 in Leningrad geborene Aktionskünstler Pawlenski hat seit 2012 immer wieder auf sich aufmerksam gemacht. Das geschah nicht zuletzt durch die ikonischen Bilder, die von seinen Aktionen entstanden sind. Mit einer »Zugenäht« betitelten Performance hat er erstmals - weit über den engen Liebhaberkreis zeitgenössischer Kunst hinaus - von sich reden gemacht: Als künstlerischen Kommentar zur Festnahme der Moskauer Punk-Performerinnen Pussy Riot nach deren verheißungsvollem Auftritt in der Christ-Erlöser-Kirche hat Pawlenski sich den eigenen Mund zugenäht und ist nackt, nur mit einem Schild ausgestattet, gleichsam vor einer Kirche aufgetreten.

Das war der Auftakt für eine Reihe medienbewusster Erscheinungen im öffentlichen Raum. Bildstark hat Pawlenski sich selbst in Opposition zur Staatlichkeit gebracht. Seine Werke bestehen nicht nur aus den fast schon plakativen Auftritten an belebten Plätzen, sondern finden ihre Fortsetzung in der medialen Reproduktion - und vor allem in den mittel- und unmittelbaren Reaktionen: der fassungslosen Passanten und hilflosen Polizisten, in Form der Adelung seiner Aktionen durch Psychiatrisierungsversuche und mit der Härte der Staatsgewalt. Pawlenski beschrieb sich angesichts des Vorgehens gegen seine Person mit richterlichen Mitteln so: »Dann bin ich auch ein Künstler der Justiz.«

Für die Aktion »Kadaver« (2013) ließ er sich nackt in einen Kokon aus Stacheldraht gewickelt in Sankt Petersburg platzieren: ein augenscheinliches Sinnbild für einen Menschen, der sich angesichts einer unfreien Welt in eine erzwungene Bewegungslosigkeit versetzt fühlt. Aber auch die Polizisten, die feststellen mussten, dass eine Entfernung des unliebsamen Subjekts eine massive Körperverletzung nach sich gezogen hätte, mussten den eigenen stark begrenzten Handlungsspielraum anerkennen. Eine Variation dieser Konstellation ereignete sich im selben Jahr mit der Performance »Fixierung«, bei der Pawlenski auf dem Roten Platz in Moskau, abermals unbekleidet, seinen Hodensack an den Boden nagelte. Videodokumentationen kann man entnehmen, wie die herbeieilenden Polizisten mit ihren reflexhaften Rufen, der Mann solle sich erheben, zu Witzfiguren wurden.

Weniger stark beachtet, aber dieser Tage von nicht unerheblicher Bedeutung ist ein Kunstwerk ganz anderer Art: das Reenactment »Freiheit« von 2014. Mitten in Sankt Petersburg hatte Pawlenski die Barrikadenlandschaft des Kiewer Maidans in der Metropole nachgebaut. Keine körperbetonte Performance, sondern eine Installation mitten in der Stadt, die über vorschnelle und simplifizierte Deutungen hinaus Fragen aufwirft. Was wäre, wenn eine Erhebung an diesem Ort Realität würde? Wie sehr ist ein Aufstand nur Inszenierung? Dazu kommt die provokative Betitelung: Das russische Wort für Freiheit - Swoboda - ist auch der Name der rechtsextremen ukrainischen Partei, die bei der so bezeichneten Revolution unangenehm mitgemischt hat.

Die Erstellung psychiatrischer Gutachten wurde angeordnet, ein Musterbeispiel für die Unfähigkeit, mit den Erschütterungen qua Kunst umzugehen, wo doch Ordnung geboten war. Und der Künstler? Der setzte sich auf die Mauer des berüchtigten Moskauer Serbski-Instituts, wo die dortige Gerichtspsychiatrie angesiedelt ist, und schnitt sich mit einem Messer das Ohrläppchen ab. »Abtrennung« (2015) war eine kleine Reminiszenz an einen gewissen Vincent van Gogh - und eine geglückte Infragestellung einer medizinischen Einrichtung, die in Staatsdiensten steht. Diese Abtrennung bezog sich nicht nur auf ein kleines Stück vom eigenen Körper, sondern hier wurde die Abtrennung eines Teils der Gesellschaft zum Thema gemacht.

Eine letzte Aktion auf russischem Boden sorgte 2015 für Furore: »Bedrohung« nannte Pawlenski sein künstlerisches Vorgehen mit Benzinkanister und Feuerzeug gegen den russischen Inlandsgeheimdienst FSB. Er entzündete die Eingangstür des Lubjanka-Gebäudes, eines Inbegriffs der russischen Staatsmacht.

Pjotr Pawlenski wurde vor allem im Westen für seine Kunst gefeiert. In Litauen errichtete man ihm sogar eine Statue. Irrigerweise hatte man angenommen, seine Mission sei die Demontage von Präsident Wladimir Putin. Aber Pawlenski ist Anarchist. Das kann man kritisieren, doch seine Haltung vertritt er konsequent. Ihm geht es in seinen Werken um die Rolle des Individuums, um Freiheit, um die Feindseligkeit der staatlichen Ordnung.

Eine erste Erschütterung in der Wahrnehmung des Künstlers gab es mit der Verleihung des Václav-Havel-Preises für kreativen Dissens im Mai 2016, auf die eine Aberkennung folgte. Pawlenski wollte sich nicht von den »Partisanen von Primorje«, einer Gruppe russischer Jugendlicher, die sich des Polizistenmordes schuldig gemacht hatten, distanzieren. Das ging dann auch bisherigen Bewunderern eindeutig zu weit.

Was nach »Bedrohung« folgte, gehört in die - bisher kaum aufgearbeitete - Justizgeschichte: 2016 wurden ihm und seiner damaligen Lebensgefährtin sexuelle Übergriffe vorgeworfen. Die Schauspielerin, die das mutmaßliche Opfer war, wurde wiederum verdächtigt, eine Agentin zu sein. Jedenfalls wurde Pawlenski nicht vor Gericht gestellt, sondern ihm wurde eine dauerhafte Ausreise nahegelegt. Ein zumindest dubioser Vorgang. Der Künstler ging mit seinen Kindern und deren Mutter nach Paris, wo man ihm Asyl gewährte. Staatliche Gelder wollte er konsequenterweise nicht annehmen.

Die Überhöhung Pawlenskis in der westlichen Rezeption seines Werkes erfuhr eine jähe Zäsur, als er auch in Frankreich tat, was Künstler tun. Er fand für seine erste Arbeit in Paris eine kluge Entsprechung in seiner letzten in Moskau . Unter dem Titel »Beleuchtung« griff er 2017 abermals zum Benzinkanister. Damit steuerte er die gegenüber der geschichtsträchtigen Bastille gelegene Sitz der französischen Zentralbank an und sorgte für Feuer. Galt die Kritik an der stillen Herrschaft des Geheimdienstes in Russland noch als opportun, wurde der Angriff auf die Herrschaft des Kapitals in einer europäischen Hauptstadt skandalisiert. Das bescherte dem »Künstler der Justiz« sogar einen Prozess unter Ausschluss der Öffentlichkeit, für ihn eine Katastrophe. In Russland hatte man sich dieser undemokratischen Maßnahme enthalten. Die Verurteilung zu einer Gefängnisstrafe wurde von einem überaus fragwürdigen Medienecho begleitet: Nun zweifelte man auch hier laut am Geisteszustand des Künstlers.

Es lässt tief blicken, wenn kritische Kunst nur solange goutiert wird, wie sie kritisch mit dem »richtigen Gegner« umgeht. Allzu schnell war man sich einig, in den staatlichen Reaktionen auf Pawlenskis Performances ein Spiegelbild des russischen Autoritarismus zu sehen. Doch schon bei dem eingangs erwähnten Auftritt von Pussy Riot in einer Kirche sind zumindest Zweifel angemessen, ob eine derartige Aktion etwa in Deutschland ohne strafrechtliche Konsequenzen vonstatten gegangen wäre. Der kluge Witz in Pawlenskis Werken, der sich hinter der vordergründigen Martialität verbirgt, besteht ja gerade darin, im Spannungsfeld von Macht und Ohnmacht zu operieren und dafür rechtliche Grenzen zumindest zu tangieren. Der primitive Blick auf komplexe Kunst, der nur auf eine Bestätigung des eigenen Weltbilds hinausläuft und die äußerst spannungsreichen, ja produktiven Widersprüche ausblendet, ist eine Anmaßung und letztlich Zeichen der Geringschätzung. Es handelt sich um die Offenbarung völliger Kleingeistigkeit.

Einig war man sich auch bei der Aktion »Pornopolitik« (2020), bei der Pawlenski den bürgerlichen Kandidaten für die Pariser Bürgermeisterwahl Benjamin Griveaux vorführte, indem er Videos veröffentlichte, die den Politiker beim Masturbieren zeigen. Diese Aufnahmen hatte der verheiratete Griveaux an eine Frau geschickt, die sich als Pawlenskis Kollaborateurin herausstellte. Auch in diesem Fall wusste man sehr schnell: Mit Kunst habe das wenig zu tun. Ob das Urteil wohl aber auch so klar ausgefallen wäre, wenn ein russischen Politiker im Mittelpunkt gestanden hätte? Die Sehnsucht nach dissidentischer Kunst aus Russland, die auch Bekenntnis zum Westen ist, war selten so groß.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.