Die Revolution ist möglich

Er war ein leninistischer Sponti: Ein Nachruf auf Alain Krivine

  • Elfriede Müller
  • Lesedauer: 6 Min.

Alain Krivine war einer der letzten Vertreter des Pariser Mai 1968, der seinen linksradikalen Überzeugungen ein Leben lang treu geblieben ist, ohne dabei jemals dogmatisch oder lächerlich zu werden. Nun ist er am 12. März in Paris im Alter von 80 Jahren gestorben. Die vielen offiziellen Beileidsbekundungen der linken wie bürgerlichen Presse machen die Bedeutung Krivines für die französische Nachkriegslinke deutlich. Sogar Staatspräsident Macron kondolierte.

Alain Krivine war ein kritischer Kommunist mit guevaristischem Einschlag. Als unprätentiöse Persönlichkeit, die weder Posten noch Karriere anstrebte, war er das Gegenteil eines Bürokraten: Er war ein leninistischer Sponti mit feinem politischen Gespür, Integrität und mit seinem Witz ein toller Redner. Antimilitarismus, Antiimperialismus und Antistalinismus, diese Mixtur war der Treibstoff, der ihn in Bewegung hielt.

Spaß und Verantwortung

Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann

Krivine wurde 1941 in Paris als Sohn eines Zahnmediziners geboren. Seine anarchistischen Großeltern waren ukrainische Juden, die wegen der antisemitischen Pogrome im zaristischen Russland am Ende des 19. Jahrhunderts nach Frankreich emigriert waren. Mit 14 Jahren schloss er sich wie seine vier Brüder dem Jugendverband der Kommunistischen Partei Frankreichs (KPF) an. Schnell geriet er in Konflikt mit der inkonsequenten Haltung der KPF im Algerienkrieg. In einer illegalen aktionistischen Gruppe versuchte er, Rekruten davon abzuhalten, nach Algerien in den Krieg zu ziehen. So kam er Ende der 1950er Jahre in Kontakt mit dem Trotzkismus und engagierte sich in einer antifaschistischen Student*innengruppe. Vor der Wohnung seines Vaters explodierte im März 1962 eine Bombe, die einigen Schaden anrichtete.

Krivine studierte an der Sorbonne Geschichte. Er war schon Trotzkist, als er sich Union des étudiants communistes (UEC) anschloss, die der KPF nahestand, aus deren Reihen viele Linksradikale der 68er Bewegung hervorgehen sollten. Zunächst wurden viele von ihnen auf dem UEC Kongress von 1965 ausgeschlossen, auch Krivine, nachdem sie gegen das Fraktionsverbot ein Tendenzrecht und damit die Entstalinisierung der Organisation eingefordert hatten und sich darüber hinaus entgegen der Parteilinie weigerten, die Präsidentschaftskandidatur des Sozialisten François Mitterrand, der als Teil des Establishments galt, zu unterstützen.

Mit anderen aus seiner Unigruppe an der Sorbonne gründet Krivine 1966 die Jeunesse communiste révolutionnaire (JCR). Sie verstand sich als Teil der Neuen Linken, die für alle sozialen Bewegungen offen war und den antikolonialen Befreiungskampf aktiv unterstützte. Es entstanden neue, über den Trotzkismus hinausgehende internationale Kontakte zu Rudi Dutschke in Westberlin, Tariq Ali in London und vielen südamerikanischen Gruppierungen. Sie verstanden sich als neue Internationalisten, während sie der KPF vorwarfen, den Internationalismus der Arbeiterbewegung zugunsten nationalistischer Beschränktheit aufgegeben zu haben.

Eine Zeit lang arbeitete Krivine als Lehrer. 1968 nahm er eine Halbtagsstelle als Redaktionssekretär in einem großen Verlag an, den er dann aber schnell wieder verließ, um sich der politischen Bewegung zu widmen. Die JCR spielte in der Revolte des Pariser Mai eine wichtige Rolle. Nach der Wiederherstellung der bürgerlichen Ordnung unter Präsident Charles de Gaulle wurde die JCR aufgelöst: Zusammen mit anderen tauchte Krivine vorübergehend unter. Er wurde entdeckt, verhaftet und verbrachte fünf Wochen im Gefängnis. Es entstand eine breite Solidaritätsbewegung.

Im April 1969 gründeten Krivine, Daniel Bensaïd, Henri Weber und Janette Habel zusammen mit den wenigen alten Kommunist*innen wie Pierre Frank, die aus der linken Opposition gegen die Stalinisierung der 1930er Jahre übrig geblieben waren, eine neue Organisation: die Ligue Communiste. Einerseits wollten sie bei den Präsidentschaftswahlen 1969 den Spirit des Pariser Mai weitertragen und mit revolutionärer Propaganda ins Fernsehen kommen, andererseits erklärten sie es für illusionär, an den Parlamentarismus glauben zu wollen. Bekannte Künstler*innen und Intellektuelle wie Simone de Beauvoir, Jean-Paul Sartre, Michel Piccoli, Yves Montand oder Marguerite Duras unterstützen das Projekt mit einem gemeinsamen Aufruf. In Abwesenheit wurde der 27-jährige Krivine, der zu dem Zeitpunkt seinen Wehrdienst ableistete, zum Spitzenkandidat ausgerufen. Begründung: Er wurde als bescheiden genug eingeschätzt, dass ihm eine Kandidatur nicht zu Kopf steigt.

In der Tat war die »rote Kampagne«, die Ligue Communiste mit ihrer Wochenzeitung »Rouge« führt, wenig erfolgreich, Krivine bekommt ein Prozent der Stimmen. Aber durch die Wahlwerbung im Fernsehen war er nun bekannt wie ein bunter Hund. In den Spots, die zur Prime Time liefen, sah man ihn vor den Bildern von Ho Chi Minh, Leo Trotzki und Rosa Luxemburg etwas steif in Anzug und mit Löwenmähne sitzen, wie er sich mit dem Satz vorstellte: »Ich bin Ihr einziger revolutionärer Kandidat«. Als solcher versicherte er, dass sich Politik nicht an den Urnen entscheide.

1974 kandidierte er erneut für die Ligue communiste révolutionnaire (LCR), wie seine Organisation jetzt hieß. Er arbeitete in ihrer Leitung und als Journalist für ihre Zeitung »Rouge«. Auf den Straßen tobte der linke Kampf gegen die Rechten und die aufkommende Xenophobie. Höhepunkt war die militante Auflösung eines rechtsradikalen Treffens gegen Immigration mitten in Paris. In dessen Folge wurde Krivine erneut vorübergehend verhaftet.

Er war sein Leben lang Aktivist und an allen relevanten Kämpfen in Frankreich beteiligt: bei der Solidarität mit der Besetzung und Selbstverwaltung der Uhrenfabrik Lip, den Soldatenkomitees, den Streiks und Demonstrationen der Schüler*innen und Student*innen, der Anti-AKW- und Frauenbewegung, Miet- und Arbeitskämpfen und bei einer Kirchenbesetzung der Sans Papiers.

Aus der häretischen Arbeiterbewegung kommend und sich auf deren Tradition beziehend, integrierte sich die LCR in die neuen sozialen Bewegungen und stellte sich gleichwohl zur Wahl. Sie sah zwischen Klassen- und Anerkennungskämpfen keinen Widerspruch, sondern eine gegenseitige Befruchtung. Alain Krivine war ein Produkt dieser kollektiven Erfahrung der Linken, der er sich ein Leben lang zugehörig fühlte und die ihn prägte. Er hielt sich eher für einen guten Organisator; die Theoriebildung überließ er lieber anderen, wie seinem Freund und Genossen, dem Philosophieprofessor Daniel Bensaïd.

Der Zusammenbruch des Realsozialismus schächte die KPF weiter, während die LCR ihren Wirkungskreis erweitern konnte. Bei der Europawahl von 1999, bei der die LCR mit der trotzkistisch etwas anders ausgerichteten Gruppe Lutte Ouvrière eine gemeinsame Liste bildete, wurde Krivine mit 58 Jahren für fünf Jahre Abgeordneter im EU-Parlament. Sein Assistent war Olivier Besancenot, ein studierter Historiker, der als Postbote arbeitete. Er wurde der neue Präsidentschaftskandidat der LCR und erreichte 2002 und 2007 über eine Million Stimmen. Daraufhin beschloss die LCR, sich aufzulösen und eine neue, breitere Organisation zu bilden. Die Losung: »Neue Periode? Neues Programm? Neue Partei«. Und 2009 entstand die Nouveau Parti Anticapitaliste (Neue Antikapitalistische Partei). Die Idee war, dass eine neue Generation die Linke breiter aufstellen sollte. Gemessen an diesen Ambitionen ist das Projekt gescheitert.

Was aus der NPA noch werden wird, wird die Geschichte zeigen, ihre wiederholten Krisen und Niederlagen hat Alain Krivine nicht mehr als Sprecher, aber als stets präsenter Genosse mit seiner Erfahrung und seinem Witz begleitet. Seit 2006 bezog er die wohlverdiente, aber geringe Rente eines Berufsrevolutionärs, der nicht nur von der Notwendigkeit, sondern durchgehend auch von der Möglichkeit einer Revolution ausging. Auf dem Grab von Herbert Marcuse steht »Weitermachen«. Dem würde auch Alain Krivine zustimmen.

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