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Eine wahre Geschichte, die niemals wahr sein kann

Folter, Rassismus, Misstrauen: In »Der Erinnerungsfälscher« erzählt Abbas Khider von Verdrängung und Erkenntnis

  • Marit Hofmann
  • Lesedauer: 5 Min.

Said Al-Wahid macht die Augen zu und wünscht sich, er würde sich an mehr Begegnungen mit seinen Eltern erinnern, an mehr Details, überhaupt an sein früheres Leben. Keine vollständigen Erinnerungen sind vorhanden, die irgendwelche Emotionen in ihm hervorrufen würden. Häufig weiß er nicht einmal, ob die Erlebnisse, an die er sich erinnern kann, wahr oder erfunden sind.» Scheint so, als wäre unser Erzähler schrecklich vergesslich.

Der aus dem Irak Geflüchtete hat mittlerweile einen deutschen Pass, eine deutsche Frau und einen Sohn, und sein Traum, als Schriftsteller zu arbeiten, ist wahr geworden, als die Vergangenheit in sein Leben drängt. Seine Mutter liegt im Sterben, die Familie erwartet ihn im Irak.

Auf der Reise von Berlin nach Bagdad, die den Rahmen von «Der Erinnerungsfälscher» bildet, denkt er an seine Kindheit zurück, seine jahrelange Flucht und seinen letzten Besuch, bei dem er enthemmte Gewalt auf den Straßen erlebt hat und ihm klar geworden ist, dass er nie mehr zurückkehren will.

Nachdem er von einem Busfahrer erzählt hat, der romantische Schlager hört und sich nebenbei den Weg freiprügelt, zweifelt unser Held wieder mal an sich selbst und zieht der Leserin den Boden unter den Füßen weg: «Said ist sich nicht sicher, ob diese Szene mit dem Busfahrer wirklich stattgefunden hat. Oder hat er sie früher, in der Zeit der Diktatur, erlebt oder gar in einem ganz anderen Land, als er auf der Flucht war? Oder hat er sie gänzlich erfunden?» Ein andermal serviert er Variationen einer Begebenheit und fügt hinzu: «Eine dieser zwei Versionen könnte wahr sein. Es gibt sogar noch eine dritte, an die Said sich allerdings nur schwach erinnern kann.» Was soll man nun mit einem so unzuverlässigen Erzähler anfangen?

Abbas Khider, Folteropfer und Saddam-Gegner, der 2008, acht Jahre nach seiner Flucht, als deutschsprachiger Schriftsteller debütierte und einige Lebensstationen mit seinem Protagonisten teilt, will mit seinem neuen Roman nicht weniger als «zum Wesen des Erinnerns» vorstoßen. Denn die Gründe für Saids Vergesslichkeit liefert er mit. Ein Hinweis ist Patrick Süskinds Bestseller «Die Taube», dem der Flüchtende immer wieder auf wundersame Weise begegnet und der von einem traumatisierten Mann handelt. «Said Al-Wahid hofft, dass die ganze Geschichte mit dem Buch … keiner dieser seltsamen Scherze seines verspielten Gedächtnisses ist.»

Das Weiterleben gelingt nur durch Meiden der «Minenfelder im Gedächtnis», durch Verdrängung der Traumata, durch Abspaltung, durch «fiktives Ergänzen, beliebiges Ausschmücken und unabsichtliches Verändern». Das gilt nicht nur für Diktatur- und Fluchterfahrung, sondern auch für die traumatischen Zustände, die sich im «gelobten» Land fortsetzen: die ständige Furcht vor Abschiebung, der allgegenwärtige Rassismus, der Said, selbst als er deutscher Staatsbürger ist, täglich in den Fokus der Racial Profiler rückt. «Saids irakische Familie ist nur eine Nachricht in der Tagesschau. Jede Zombie-Serie kommt den Menschen in Deutschland emotional näher … Alles, was mit seinen Wurzeln und seiner schattigen Hautfarbe zusammenhing, das wollte er fortan mit sich selbst ausmachen. Es ist, als hätte Said eine Affäre, von der keiner erfahren soll, eine mit sich selbst.»

Khider will nach wie vor «keine Betroffenheitsliteratur betreiben». Zu seinen ersten Büchern sagte er: «Ich wollte all die Qualen, die wir Iraker unter Saddam Hussein erlitten haben, literarisch aufarbeiten und hierfür eine neue Sprache schaffen. Diese Sprache tut nichts anderes, als all die Grausamkeiten in Heiterkeit umzudichten. Denn für einen Flüchtling ist es das Wichtigste, trotz aller Umstände humorvoll zu bleiben. Sonst ist es sehr schwer, weiterzumachen.»

Wie bereits in dem Roman «Ohrfeige» (2016), in der ein Asylbewerber in einer Art Rachefantasie seine Sachbearbeiterin in Geiselhaft nimmt, um ihr seine Lage klarzumachen, seziert Khider in «Erinnerungsfälscher» mit feinem Spott und ethnologischem Blick nicht zuletzt Marotten und Selbstgefälligkeit der Deutschen: «Wohnungssuche, Termine aller Art, Formalitäten sollte jemand wie Said nie allein angehen. Das war das Terrain der Einheimischen. Ihre Tätigkeit gab den Sachbearbeitern, Beamten und Angestellten das Gefühl, etwas Besonderes zu sein, etwas Göttliches. Sie redeten nicht gern mit den kümmerlichen Geschöpfen selbst, sondern sprachen lieber zu einem und durch einen inländischen Gesandten mit ihnen.»

Als man ihn im Zuge des Antiterrorgesetzes nach dem 11. September zu islamistischen Organisationen befragt, hofft Said, «wenn er überall ›Nein‹ ankreuzte, würde er vielleicht eine schriftliche Bestätigung erhalten, dass er mit Terrorismus und Islamismus nichts zu tun habe; und könnte sich mit dieser Bestätigung dann von jedem künftigen Verdacht und jeder Befragung befreien. Wieso nicht? Die Deutschen selbst hatten nach dem Zweiten Weltkrieg so einen Persilschein zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus von den Amerikanern erhalten. Es gab bedauerlicherweise keine solche Bescheinigung für Said Al-Wahid.»

Saids Erfolg als Schriftsteller stellt sich erst ein, als er es aufgibt, zu versuchen, sich an Fakten zu erinnern. «Die Texte sind verfälschte Storys seines Lebens. Sie sind Versuche, eine einzige wahre Geschichte zu schreiben, nämlich seine, die niemals wahr sein kann.»

Das deckt sich mit dem, was sein Schöpfer frei nach Claude Simon über die eigene Literatur sagt: Alles sei autobiografisch, auch das Erfundene. 2016 beklagte sich Khider über «zu viele Geschichtsfälschungen. Das liegt daran, dass die Geschichte nicht von einfachen Menschen geschrieben wird, sondern von Regierungen und Herrschern.» Da ist auf unseren Erinnerungsfälscher mehr Verlass. Nicht zuletzt mit Bildern wie diesem kommt er der Wahrheit deutlich näher: «Heimaten sind oft nur Gefängnisse - mit zugelassenen Folterinstrumenten.» Und dass Said schließlich sein Versprechen vergessen hat, eines Tages mit seinem kleinen Sohn nach Bagdad zu fliegen, wundert dann schon nicht mehr.

Abbas Khider: Der Erinnerungsfälscher. Hanser, 128 S., geb., 19 €.

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