Der Drang nach Freiheit

1952 ist ein Schlüsseljahr in der Geschichte des Rock ’n’ Roll - die Schwarzen Pioniere wurden spät gewürdigt

  • Olaf Neumann
  • Lesedauer: 8 Min.

Die einzigen Menschen, die mich interessieren, sind die Verrückten, die verrückt leben, verrückt reden und alles auf einmal wollen, die nie gähnen oder Phrasen dreschen, sondern wie römische Lichter die ganze Nacht brennen, brennen, brennen». Diesen subversiven Satz sagt der Beatnik-Autor Jack Kerouac in der Ära des Kalten Krieges. Zu der Zeit riskieren in den USA linke Künstler, von Senator McCarthy und seinem antikommunistischen Ausschuss ins Gefängnis gesteckt zu werden. Es sind die 50er Jahre und die Rassentrennung ist immer noch allgegenwärtig.

Die Fifties stehen aber auch für die Kultur des Aufbegehrens. Der Drang nach Freiheit und die Rebellion gegen die bürgerliche Moral bringen revolutionäre Schriften wie Kerouacs «On The Road» hervor - und sorgen gleichzeitig für den Urknall einer neuen musikalischen Bewegung, den Rock ’n’ Roll. Eine explosive Mischung aus Blues, Swing, Country und Erotik.

Als der farbige US-Sänger Jackie Brenston (damals 21) und der farbige Pianist Ike Turner (19) am 5. März 1951 die Memphis Recording Service und späteren Sun Studios des weißen Produzenten Sam Phillips (28) betreten, ahnen sie nicht, dass sie Musikgeschichte schreiben werden. Der elektrisierende, urwüchsige Zwölf-Takt-Blues «Rocket 88» aus ihrer Feder hat bereits alles, was den Musikstil Rock ’n’ Roll einmal auszeichnen soll: ein sexuell suggestiver Text, eine raue, wilde Spielweise. So prickelnd hat bis dahin noch keine schwarze Musik geklungen. Die lauten, übersteuerten und verzerrten E-Gitarrenklänge gehen auf den defekten Röhrenverstärker des zu der Zeit 19-jährigen Willie Kizarts zurück. Ausgehend von dieser Transistorverzerrung soll später eine eigene, von Weißen dominierte Musikrichtung entstehen, die mal Garage Rock, mal Psychedelic Rock genannt wird. «I Can’t Get No Satisfaction», der größte Hit der Rolling Stones, ist das bekannteste Beispiel für den so genannten Fuzz-Effekt. Er wird auch extensiv von Jimi Hendrix angewendet.

«Rocket 88» erobert die R-&-B-Records-Charts. Doch auf der Hit-Single mit der laufenden Nr. 1458 verschweigt das in Chicago sitzende Label Chess Records die Mitwirkung von Bandleader Ike Turner und dessen Rhythm Kings. Auf dem Cover werden stattdessen der Sänger und Saxofonist Jackie Brenston und die Gruppe Delta Cats genannt. Das und der große Erfolg des Titels bei einer weißen Hörerschaft führen zu einem Zerwürfnis der beteiligten Musiker. Turner, der tatsächliche Komponist, soll an der Platte nur 40 Dollar verdient haben. Erst 1991 würdigt die Rock and Roll Hall of Fame «Rocket 88» als ersten wahren Rock-’n’-Roll-Song in der Musikgeschichte.

«Ein weißer Junge, der wie ein schwarzer Sänger klingt, ist wie eine Goldmine», stellte Ike Turner († 2007) rückblickend bezüglich des Hypes um die weißen Rock-’n’-Roll-Stars Elvis Presley und Jerry Lee Lewis desillusioniert fest.

Der Erfolg von «Rocket 88» half (dem Weißen) Sam Phillips, im Februar 1952 Sun Records zu gründen. Das erste Rock-’n’-Roll-Konzert überhaupt ist der Moondog Coronation Ball am 21. März 1952. Es wird von dem DJ Alan Freed und dem lokalen Veranstalter Lew Platt in der Cleveland Arena organisiert. Dabei treten Paul Williams and his Hucklebuckers, Tiny Grimes and the Rocking Highlanders, The Dominoes, Varetta Dillard und Danny Cobb hauptsächlich vor Teenagern in Ekstase auf. Die örtliche Polizei ist die ganze Zeit in Sorge, dass ein Aufstand ausbrechen könnte.

Ebenfalls 1952 schreiben der 59-jährige Max C. Freedman und der 32-jährige James E. Myers (letzterer unter dem Pseudonym «Jimmy De Knight») den Titel «Rock Around the Clock», der zwei Jahre später in der Interpretation von Bill Haley ein Welthit werden soll. Ausgerechnet ein leicht übergewichtiger, fünffacher Familienvater aus Michigan ist der erste Weiße, der diesen rebellischen und lärmenden Musikstil im Mainstream definiert. Äußerlich ist Haley alles andere als Elternschreck, Jugendidol oder Krawallmacher. Tatsächlich ist er aber der erste, der schweren Blues-Themen die Stromlinienförmigkeit der Countrymusik verpasst. Das gemeinsam mit seiner Band, den Comets, eingespielte «Rock Around The Clock» ist das erste Rockalbum, das in die US-Charts gelangt. Dort klettert es im Frühjahr 1956 bis auf Platz zwölf. Die gleichnamige Single erschien bereits im Mai 1954 und ist die erste Rock-’n’-Roll-Nummer an der Spitze der Billboard-Pop-Charts. Im Zuge seines massiven Erfolgs wird Bill Haley von den Medien als «Vater des Rock ’n’ Roll» tituliert. Die Ära der Rockmusik beginnt über Nacht und attackiert die Dominanz von Jazz- und Pop-Croonern wie Frank Sinatra oder Bing Crosby.

Zum größten Star dieser neuen Bewegung wird allerdings ein 19-jähriger Lkw-Fahrer aus Tupelo/Mississippi: Elvis Presley. Im Frühjahr 1954 macht er in Memphis/Tennessee die Bekanntschaft des bereits erwähnten Sam Phillips. Der Besitzer des winzigen Sun Records Studios an der Union Avenue ist auf der Suche nach einem weißen Countrysänger, der über eine Rhythm’n’Blues-Stimme verfügt. Im Sommer 1954 kommt Presley in den Sun Studios erstmals mit dem Gitarristen Scotty Moore (damals 22) und dem Bassisten Bill Black (18) zusammen. Sam Phillips ist von den sentimentalen Liedern des jungen Sängers zuerst wenig beeindruckt. Als dieser in einer Pause am Mikrofon herumalbert und spontan die Blues-Nummer «That’s All Right (Mama)» von Arthur Crudup intoniert, steigen Black und Moore nacheinander in die Session mit ein. In dem Moment entdeckt Phillips in Elvis’ Stimme das gewisse Etwas: eine geheimnisvolle erotische Anziehungskraft.

Sam Phillips hat ein untrügliches Gespür dafür, wann ein Künstler seine beste Vorstellung gibt. Ihm kommt es vor allem aufs Gefühl und nicht auf die technische Perfektion an, und so sucht er stets nach der perfekten unperfekten Aufnahme. Phillips ist ein Innovator, indem er beim Abmischen Elvis’ Stimme zurücknimmt zugunsten der Instrumente, was damals absolut unüblich ist. Zudem verwendet er bei den Aufnahmen einen Echo-Effekt, indem er das Tonband durch einen zweiten Recorder laufen lässt. 1956 wechselt Elvis Presley schließlich vom regionalen Sun- zum nationalen RCA-Label. Seinen neuen Produzenten gelingt es jedoch nicht, den charakteristischen Sun-Records-Sound zu imitieren.

Seine Debütsingle beim neuen Label ist «Heartbreak Hotel». Sie entwickelt sich mit zwei Millionen verkauften Exemplaren zum größten Hit des Jahres 1956. Der «Rolling Stone» wählt sie in seiner Liste der 500 besten Singles aller Zeiten auf Platz 45. Am 23. März 1956 erscheint das Album «Elvis Presley». Für sein LP-Debüt greift der inzwischen 21 Jahre alte Sänger auf Rock-’n’-Roll- und Rockabilly-Songs aus der Sun-Zeit und neuere Titel zurück. Für RCA wird es der erste Millionenseller in seiner Geschichte. Noch im selben Jahr tut er sich mit Johnny Cash (24), Carl Perkins (22) Jerry Lee Lewis (21) zum Million Dollar Quartet zusammen. Die spontane Session gilt als Schlüsselmoment in der Geschichte des Rock ’n’ Roll.

Seither ist der (weiße) Sänger Elvis Presley unzählige Male kopiert worden. Der (schwarze) Chuck Berry hat das nicht nötig. Umgekehrt reicht der Platz auf dieser Seite nicht, um alle Coverversionen des Elvis Aaron Presley von Chuck Berry aufzuzählen. Seine erste Plattenaufnahme macht der Gitarrist und Sänger Berry mit 18 Jahren im Spätsommer 1954 in den Premiere Studios im schwarzen Elendsviertel von St. Louis/Missouri. Die Songs werden noch unter seinem bürgerlichen Namen Charles Berry veröffentlicht.

Im April 1956 nimmt er als Chuck Berry «Roll Over Beethoven» auf. Die Single verkauft sich millionenfach und hält später als einer von 50 historisch bedeutsamen Titeln Einzug in die Forschungsbibliothek des US-Kongresses. Berrys Manager will ihn zum schwarzen Elvis aufbauen, aber der Musiker macht lieber sein eigenes Ding. Mit harten, lauten und ungeschliffenen Gitarrensongs wie «Rock ’n’ Roll Music», «Johnny B. Goode» oder «Sweet Little Sixteen» vollzieht er den nahtlosen Übergang vom Rhythm & Blues zum furiosen, provozierenden Rock ’n’ Roll. Seine direkten, neuartigen Lieder gehen ins Rock-’n’-Roll-Gedächtnis ein, weil sie Schlachtrufe mit Anheizerpotenzial sind.

Doch im rassistischen Amerika der 50er Jahre ist ein eigenwilliger schwarzer Jugendheld wie Chuck Berry nicht gefragt. Seine Songs werden gerade wegen ihrer unverwechselbaren Gitarrenriffs später zwar von den Beatles und Rolling Stones aufgenommen, aber er selbst wird immer wieder von windigen Geschäftsleuten und Managern betrogen. Das macht ihn mit der Zeit zu einem übellaunigen, misstrauischen Zeitgenossen. Nichtsdestotrotz gilt der 2017 verstorbene Musiker heute als der wahre Gott des Rock ’n’ Roll, als einer, der für die Rockmusik vermutlich mehr getan hat als jeder andere.

Einer der wenigen farbigen Sänger, die in der ersten Liga der Rock-’n’-Roll-Künstler mitspielen dürfen, ist Little Richard. 1955 bricht der 23-Jährige wie ein Tornado über den Rock ’n’ Roll herein. Der Sänger und Pianist aus Macon/Georgia ist anders als seine musikalischen Zeitgenossen, bekennt sich offen zu seiner Homosexualität und tritt ungemein exzentrisch auf. Ob mit ondulierter schwarzer Tolle, grellem Make-up oder glamourösem Spiegelscherbenanzug - als besessener Zeremonienmeister macht Little Richard von Anfang an eine gute Figur, und David Bowie sah sich selbst in dessen Nachfolge. Ein rebellischer und kantiger Geist, dessen selbstzerstörerische Konzerte Orgien gleichen. Richard selbst nennt sich überkandidelt «King Of Rock». Tatsächlich werden seine lauten und aggressiven Songs wie «Tutti Frutti oder »Long Tall Sally« Dekaden später von vielen Rock- und Hardrock-Musikern gecovert.

Innerhalb von zwei Jahren bringt Little Richard sagenhafte 30 Millionen Platten an den Mann. Genauso plötzlich wie sein Auftauchen ist sein Abgang von der Rock-’n’-Roll-Bühne: Ende 1957 beschließt er nach Beobachtung eines Feuerballs am Himmel mit dem »bösen Rock’n’Roll« radikal zu brechen. Stattdessen dient er als Prediger und Bibelverkäufer dem Christentum - bis zu seinem Comeback Anfang der 60er. Er stirbt 2019 im Alter von 87 Jahren.

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