Alles hängt mit allem zusammen

Michael Kempe schaut auf »die beste aller möglichen Welten« von Gottfried Wilhelm Leibniz

  • Harald Loch
  • Lesedauer: 4 Min.

An manchen Tagen scheint die gleichmäßig vergehende Zeit innezuhalten - jedenfalls für die Geschichtsschreibung: die Iden des März, als Caesar ermordet wurde, der Sturm auf die Bastille in Paris am 14. Juli 1789 oder vielfach auch problematisch belegte 9. November in der deutschen Geschichte. Es ist, als holte Clio, die Muse der Historiografie, an solchen Tagen tief Luft.

Unterteilt man den Lebenslauf eines Menschen ähnlich, hält der Zug der Zeit an markanten Haltestellen zwischen Geburt und Tod: Schulabschluss, Eheschließung, berufliche Etappen, familiäre und nationale Unglücke. An nichts von alledem macht Michael Kempe, Leiter der Leibniz-Forschungsstelle der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, in seiner Biografie des Universalgelehrten halt, der 1646 in Leipzig, im Kurfürstentum Sachsen geboren wurde und 1716 in Hannover, im Kurfürstentum Braunschweig-Lüneburg starb.

Der Autor wählt sieben mehr oder weniger beliebige Tage, erzählt vom Tagesablauf des Gottfried Wilhelm Leibniz und erschließt auf diese einmalige Weise den ganzen Kosmos des Mannes, dessen Korrespondenz mit über 1000 Adressatinnen und Adressaten von der Unesco zum Weltdokumentenerbe erklärt wurde - als einzigartiges Zeugnis der europäischen Gelehrtenrepublik am Übergang vom Barock zur frühen Aufklärung.

Kempe wagt mit diesem Kunstgriff der Unterteilung des Lebensflusses in sieben Kapitel viel. Er riskiert, Wichtiges auszulassen, und läuft Gefahr, ein Lesepublikum zu verlieren, das stringent chronologische Erzählungen gewohnt ist. Bei Leibniz kann Kempe aber mit diesem Atemholen an sieben Tagen viel gewinnen. Wer im Laufe eines Tages Gedanken zur Infinitesimalrechnung (Differenzial- und Integralrechnung) notiert und dazu auch das epochemachende Integralzeichen ∫ erfindet, sich mit Gelehrten in London oder Paris über philosophische Fragen austauscht, an der Mechanik einer Rechenmaschine tüftelt und die Idee einer nur auf 1 und 0 basierenden binären Ausdrucksweise entwickelt - wer das und vieles andere mehr auf seinem vielleicht ungeordneten Schreibtisch zu Papier bringt, der ist zweifellos ein Genie.

Kempe lässt den Leser über dessen Schulter schauen. Er schöpft dabei aus dessen weitgehend erschlossenem Nachlass. Seit Jahrzehnten arbeitet die Akademie der Wissenschaften zu Berlin mit der Göttinger Akademie an der Gesamtausgabe der Werke und Briefe von Leibniz.

Ein Tag in Zellerfeld im Harz lenkt den Blick auf die dortige Silbergewinnung, für die Leibniz eine Kombination aus Windturbinen und Wasser-Staubecken für den Antrieb von Wasserturbinen entwickelte, um dem Verfall des Silberpreises durch billige Importe aus Mexiko die Stirn zu bieten durch rentablere Eigenproduktion. Nebenbei kümmerte er sich um die Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel, deren Bibliothekar er seit 1691 war, und führte in französischer oder lateinischer Sprache umfangreiche Briefwechsel in alle Welt.

In Berlin gründete Leibniz im Jahre 1700 auf Initiative der späteren Königin (Preußen wurde erst ein Jahr darauf Königreich) die Kurfürstlich Brandenburgische Societät der Wissenschaften, die spätere Akademie der Wissenschaften. In Wien kümmerte er sich um die Reorganisation der Staatsfinanzen zur Finanzierung der »Türkenkriege«, unterhielt enge Beziehungen zum kaiserlichen Hof, vor allem zum Staatsmann und Feldherrn Prinz Eugen. Leibniz war übrigens kein Frühaufsteher; um das alles zu bewältigen, dachte er aber bereits morgens, noch im Bett, über Gott und die Welt nach, um sodann im Laufe des Tages mehrere Geistesblitze schriftlich festzuhalten.

Kempe referiert amüsant auch über frühe Eifersüchteleien in der Gelehrtenwelt, etwa zwischen dem Briten Isaac Newton und Leibniz über das Erstgeburtsrecht an der Infinitesimalrechnung. Auf spannende Weise entblättert der Biograf den philosophischen Kern von Leibniz’ Denken. Dieser war Optimist und hielt die Welt zu seiner Zeit, wie er sie wahrnahm, »für die beste aller möglichen Welten«. Keineswegs verschweigt Kempe dabei die weltberühmte Abrechnung Voltaires mit dieser Überzeugung des Deutschen in der philosophischen Novelle »Candide oder der Optimismus«.

Seine »Theodizee«, also die »Verteidigung« Gottes gegen alles Übel auf der Welt, würde Leibniz vielleicht angesichts dessen, was hernach, in folgenden Jahrhunderten geschah, umschreiben. Im Leibniz-Saal der Berliner Akademie der Wissenschaften sind noch die Einschusslöcher der Roten Armee aus der Schlacht um Berlin im April/Mai 1945 zu sehen. Leibniz hatte seinem Bewunderer, dem Zaren Peter I. (dem Großen), die Gründung einer Akademie der Wissenschaften in Sankt Petersburg vorgeschlagen, die dieser allerdings erst nach dessen Tod umsetzte. So »hängt alles mit allem zusammen«, wie Leibniz treffend bemerkte.

Michael Kempe: »Die beste aller möglichen Welten«. Gottfried Wilhelm Leibniz in seiner Zeit. S. Fischer, 352 S., geb., 24 €.

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